Die junge Hamburger Autorin Nino Haratischwili liest heute aus ihrem Debütroman “Juja“ im Literaturhaus - hoher Spannungsfaktor.

Literaturhaus. Die Handlung in Nino Haratischwilis Debütroman "Juja" erstreckt sich auf mehreren Zeitebenen. Zentriert ist sie um ein seltsames Buch, das im Frankreich der 70er-Jahre kursiert, genauer: in Paris, aber das ist für viele ja gleichbedeutend mit dem Land jenseits der Grenze. Dieses Buch im Buch heißt "Eiszeit", die Autorin nennt sich Jeanne Saré und ist wohl das, was man heute eine Borderline-Patientin nennen würde. In jedem Falle hat sie ein Selbstdefinitionsproblem und ist von einem tiefen Hass gegen sich selbst und ihre Umwelt getrieben. Gleichwohl wird ihr Buch gelesen, besonders in feministischen Kreisen. Durchaus mit Folgen: Der Suizid der Hauptfigur veranlasst viele Leserinnen dazu, sich ebenfalls umzubringen.

In "Juja" geht es also um tote Frauen, um ziemlich viele tote Frauen. Aber einen wirklichen Todesfall gibt es nicht mehr: Die Verblichenen gehören einer Vergangenheit an, die in der Gegenwart des Romans überwunden wird. Die unheimliche Macht des verhängnisvollen Buches wird im Verlaufe der Handlung gebrochen. Und trotzdem ist "Juja" ein rasender Roman über die Gefangennahme des Menschen durch die Kunst, über die Kraft der Literatur und die identifizierende Wirkung der Worte.

Die Frauen, die das gefährliche Buch lesen, geraten in einen Sog; Literatur hat hier die denkbar stärkste Wirkung auf ihre Leser. Rezeptionsästhetisch ist das Bedeutungs- und Sinnangebot dieses Kunstwerks überwältigend. Und der Art von Literatur, die einen nicht an Orte und Abenteuer entführt, die man sonst nie betreten würde, steht immer die Sorte Texte gegenüber, in denen sich der Leser selbst erkennt.

So geschieht es den Leserinnen von "Eiszeit", dem Buch im Buch. In der Erzählgegenwart stoßen wieder Menschen auf dieses vergessen geglaubte Werk, dessen suggestiver Effekt so verheerend ist.

Eine Kunstwissenschaftlerin und ein Student machen sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Geschichte, und eine Frau reist aus Australien nach Paris, wo sie ebenfalls in den Bann des Buches gerät. Das sind die Frauen der Jetztzeit. Die Autorin Nino Haratischwili, die in Hamburg lebt und als Theaterautorin erfolgreich ist, versteht aber ihre Aufgabe durchaus grundsätzlicher - und so sind die Frauen in ihrem Roman, dessen Einband in mattem und erklärtermaßen ionischem Frauen-Lila daherkommt, zu allen Zeiten unglücklich.

Nino Haratischwili, deren Hauptberuf als Theaterautorin in den dramatischen Dialogen zu seinem Recht kommt, montiert in "Juja" verschiedene Zeitebenen miteinander, sodass ein Episodenroman entsteht, dessen Spannung immer gerade auf dem Level gehalten wird, dass sie das Interesse an den verschiedenen Charakteren nicht erstickt, deren Name jeweils die einzelnen Kapitel benennt.

Eine der Figuren des Romans wird schlicht als "Bruder" bezeichnet, sie ist der mutmaßliche Autor des "Eiszeit"-Buchs. Dieser Patrice Duchamps ist am Anfang ein misanthropischer Möchtegernliterat und später ein ebenso misanthropischer Exverleger mit sadistischen Gelüsten.

Er ist eine von nur zwei männlichen Protagonisten in "Juja" und dennoch, aber das mag vom Geschlecht des jeweiligen Lesers abhängen, die interessanteste. Ein kalter Mensch, der nur für eine große Liebe glüht und ein altes Trauma zu bewältigen hat. Überhaupt ist "Juja", das für die Juroren des Deutschen Buchpreises zu den 20 besten deutschsprachigen Romanen des Jahres gehört, eine weibliche Version des "Werther"; Goethes Sturm-und-Drang-Werk animierte seinerzeit sensitive Jünglinge, in den Tod zu gehen.

Im Vergleich zum Dichterfürsten wählt Nino Haratischwili, die 1983 in Tiflis geboren wurde, freilich einen, wenn nicht postmodernen, dann doch immerhin modernen Zugang zum Thema, was sich natürlich zuerst im Goethe-Zitat ausdrückt. "Juja" ist eine Mischung aus Kriminalroman und Drama und ist sprachlich in den inneren Monologen am gelungensten.

Es gab, wie die Autorin erklärt, eine reale Entsprechung der Handlung: Es war ein Roman namens "Arsenikblüten", der, angeblich geschrieben von der 17-Jährigen Danielle Sarréra, in Frankreich zu zahlreichen Selbstmorden unter Frauen führte. Sarréra warf sich wie die entsprechende Figur Saré in "Juja" vor einen Zug. Diese Danielle Sarréra erwies sich als Phantom. Wahrscheinlich war sie die Erfindung ihres "Herausgebers" Frédérick Tristan; dessen Autorschaft ist inzwischen allerdings selbst angezweifelt worden.

Auch Nino Haratischwili löst die editorischen Fragen nicht auf und baut Hinweise ein, nach denen es (in ihrer Fiktion) wirklich eine 17-jährigeSelbstmörderin gab. Das Spiel mit der Authentizität ist schlüssig und interessant.

Nino Haratischwili: "Juja". Verbrecher Verlag. 300 S., 24 Euro; Lesung heute, 20.00, Literaturhaus (U Mundsburg), Schwanenwik 38, Eintritt 7/4 Euro