Philipp Meyers gefeierter Debütroman “Rost“ erzählt von der Freundschaft zweier Männer in einer sterbenden Region im US-Staat Pennsylvania.

Hamburg. Buell ist eine Kleinstadt, hübsch und mit Kirchtürmchen, umgeben mit grün wogenden Hügeln. Buell ist tot und hat den Charme einer antiken Siedlung, die aus Ruinen besteht; als wäre das hier Italien und nicht Pennsylvania. Es kommt nie jemand zu Besuch nach Buell, im Gegenteil: Die Menschen fliehen aus der Stadt, seit das Stahlwerk zugemacht hat. Es rottet vor sich hin, teilweise ist es demontiert worden. Pennsylvania ist ein müdes Land geworden, nachdem es in der weltweiten Stahlkrise erbarmungslos mit den Trümmern der eigenen Existenz konfrontiert wurde. 150 000 Malocher sind es in Philipp Meyers Roman "Rost", die 1987 in der Gegend von Pittsburgh entlassen werden. Ein Schlag, von dem sich das Land nicht erholt.

In dieser Szene des unwiederbringlich Zerstörten situiert Meyer, der gefeierte 36-jährige Autor und frühere Börsenhändler, das Drama um eine Gruppe von Menschen, deren Schicksale eng miteinander verknüpft sind. In die gesellschaftliche Flaute fegt ein Sturm, der das Leben der Figuren durcheinanderwirbelt. Der intellektuelle Isaac und sein Freund, der ehemalige Footballspieler Poe, finden bei Unwetter Unterschlupf in einer alten Maschinenhalle, dort treffen sie auf Herumstreuner. Die beanspruchen den Platz für sich. Es kommt zum Streit, an dessen Ende einer der anderen tot ist.

Isaac, der schmächtige 20-Jährige, tötet unbeholfen, aus Notwehr. Nach der Flucht vom Tatort werden die Freunde schnell überführt. Aber es ist nicht Isaac, der ins Gefängnis muss, sondern Poe. Der ist wegen Körperverletzung vorbestraft, und Chief Bud Harris, der Poes Mutter liebt, kann ihm nicht helfen. Poe ist im Knast den Intrigen und Repressalien ausgesetzt, die das Zusammengepferchtsein der Delinquenten bestimmt. Isaac dagegen flieht, es ist das, was er ohnehin tun wollte und was alle tun wollen, die auf diesem hoffnungslosen Flecken Land leben.

Es ist das Genre des Krisenromans, der untergehenden Welt, das Meyer in seinem Debüt bedient. Sein Blick führt das gesellschaftliche Panorama und den Einzelnen zusammen. Der lebt immerhin in einer reizvollen Gegend. Bisweilen sind die landschaftlichen Aufnahmen wunderschön, "Rost" ist auch ein Roadmovie. Weil Isaac, der Halbwaise, den amerikanischen Mythos nicht in den gigantischen Industrieruinen begräbt, sondern mit dem Zug nach Westen fährt, nach Kalifornien. Aber er hat kein Glück, er kommt nie an, er hungert, er friert, er läuft abgewetzt herum wie ein Tippelbruder. Er schafft den Befreiungsschlag nicht, genauso wenig wie die anderen Helden, die in falschen Zeiten an falschen Orten leben: in Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun" zum Beispiel oder in Döblins "Berlin, Alexanderplatz". Die Welt ist in "Rost" freilich nicht im Niedergang begriffen, sie ist bereits leer geworden (buchstäblich).

Die Welt, wie sie einst war, kennen die jungen Helden in "Rost" nicht mehr. Sie kennen nur ihre Väter. Die liegen, im Falle von Isaac, krank im Bett, oder sie sind arbeitslose Nichtsnutze wie bei Poe. Es gibt nichts, was sie zu betrauern hätten; die untergegangene "Welt von gestern" ist anders als bei Stefan Zweig keine, die nostalgisch macht. Wo die Elterngeneration gescheitert ist, fehlt den Kindern die Orientierung. Isaacs Schwester schafft den Absprung, sie studiert in Yale - um den Preis der Entfremdung von der Familie. Sie opfert den Bruder für die Befreiung. "Rost" ist nicht unbedingt eine naturalistische Anordnung, in der sich die Niederlage mit der Geburt in ein bestimmtes Milieu ankündigt. Dafür ist Meyers Roman zu hoffnungsfroh (auch wenn sich dies erst zum Schluss offenbart).

Die Initiationsgeschichte, die "Rost" erzählt, hat nur etwas mit dem geglückten Fortkommen zu tun - eine Grundannahme, die wir bezüglich der Adoleszenz anstellen. Wenn man alt ist, kann man nicht mehr weg, sondern sich nur in der Wirklichkeit einrichten. Es ist eine fade Gegend, in der der alternde Polizist Bud Harris bleiben will, mit keinen anderen Versprechungen als denen, neben seinem Hund auf der Veranda zu sitzen und seine Pension zu verzehren. In der Industriebrache wird alles weniger, besonders das Steueraufkommen. Weil die ausgebluteten Innenstädte aber nicht eingerissen wurden, zogen in die entstehenden Sozialbauten die Deklassierten. Die Probleme der armen Bevölkerung ziehen unweigerlich eine hohe Kriminalitätsrate nach sich, der Chief Harris mit immer weniger Personal beikommen muss. Die Polizei wird rückgebaut, der Job nicht leichter werden in Zukunft. Eine Grisaille ist Meyers Roman nicht und natürlich viel mehr als eine literarische Problemstudie. Am Ende treffen alle Protagonisten Entscheidungen, die ein optimistisches Bild von der Zukunft ermöglichen.

Das Motiv von "Schuld und Sühne", das "Rost" aufgreift, gibt Meyers Debüt eine literarhistorische Tiefe. Der Autor ist für "Rost" hochgelobt worden, man vergleicht ihn mit Cormac McCarthy und Salinger. Wer zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise ein Werk wie "Rost" zu Papier bringt, wer gekonnt Persönliches und Gesellschaftliches spiegelt: Der hat tatsächlich ein gutes Buch geschrieben.

Philipp Meyer: Rost . Dt. v. Frank Heibert. Klett-Cotta. 464 S., 22,95 Euro. Lesung auf dem Harbour-Front-Festival: 16.9., 21 Uhr, "Cap San Diego"