Bei einer Premierenlesung in Berlin, am Wannsee, gab Norbert Gstrein vor einiger Zeit bereits unumwunden zu, dass sein neuer Roman "Die ganze Wahrheit" eine Art Porträt der Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz sei. Nun ja, es war nicht zu übersehen, wenn man sich die Schrullen der Hauptfigur Dagmar anschaut, die in diesem Buch ihr Unwesen treibt. Dagmar hat einen ziemlichen Juden-Fimmel und einen älteren Mann, der einen Verlag leitet. Nach seinem Tod übernimmt sie diesen, schreibt ein Buch über das Ableben ihres Mannes, das fast niemandem so richtig gefällt.

So war's bei Unseld-Berkéwicz! Das weiß jeder, der Neuigkeiten aus dem Literaturbetrieb für grandiosen Gossip hält. "Die ganze Wahrheit" heißt das Buch Gstreins, es ist ein zwiespältiges Leseerlebnis. Denn wo sonst literarische Vexierspiele, in denen es um Biografisches, die Rolle des Ich-Erzählers, um Verfremdungen und wahrhaftige Bezüge geht, einem literarischen Werk eine tiefere Bedeutungsebene geben, sind Gstreins Handgriffe zu kräftig. Sie schieben sich diesen Roman auf eine Art zurecht, die dann eben doch staunen macht. "Die ganze Wahrheit" ist nicht subtil; man liest sie, diese Wahrheit, nach dem Prinzip des Schlüsselromans - egal, was jetzt der Wirklichkeit abgeschaut ist und was nicht.

Der Verlag in Wien, der Verleger Heinrich Glück wohl kaum: alles reine Fiktion, so jämmerlich würde Gstrein den ihm wohlgesonnenen Siegfried Unseld nie darstellen, und auch der kleine Verlag in Wien ist in nichts zu vergleichen mit dem glamourösen Hause Suhrkamp. Und so will Gstrein lediglich die Geschichte einer extrovertierten, mindestens eigenwilligen Dame mit (angeblich krude-esoterischem) Sendungsbewusstsein erzählen. Ihm erschien nicht die Suhrkamp-Saga wie Literatur, sondern allein die verrückte Frau. Die ist in "Die ganze Wahrheit" bisweilen wirklich böse und intrigant, aber wer findet ernsthaft diesen Weichei-Erzähler, der ihr nichts entgegenzusetzen hat, sympathischer?

Er wird am Ende von der furienhaften Dagmar entlassen, weil er sich weigert, ihr verquastes Buch zu lektorieren. Gstrein selbst verließ Suhrkamp und wechselte zu Hanser. Der Anti-Ulla-Furor des Romans leidet jedenfalls unter dem Verdacht, hier wolle einer abrechnen. Verloren gehen die vielen Schätze des Dichters Gstrein, dessen Formulierungen mitunter glänzend sind. Und vielleicht ist sein Buch ja doch vor allem: ein Blick aufs (allzu) Menschliche. Wie fies Menschen miteinander umgehen können, und wie abgeschmackt doch alles ist, davon berichtet "Die ganze Wahrheit", manchmal fällt eben etwas vom Leben in die Literatur. Ach was, eigentlich immer.

Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. Hanser. 303 Seiten, 19,90 Euro