Bei den 65. Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker gehen Musiker und Publikum gemeinsam an Grenzen. Der Begriff Kammermusik wird deutlich erweitert.

Hitzacker. Ein paar Schafe blöken träge am Wegesrand, die Kühe grasen postkartenreif - und selbst ein echter Storch zieht klappernd seine Kreise, als rund 250 Festivalbesucher am Deich flanieren: Der ländliche Charme des Naturparks Elbufer-Drawehn bleibt auch während der 65. Sommerlichen Musiktage Hitzacker ein wichtiger Bestandteil des Festivals.

Wie beim vormittäglichen Spaziergang zu einem malerisch gelegenen Obsthof, wo Musikwissenschaftler Michael Kube bei frisch gepflückten Äpfeln über die Naturliebe von Franz Schubert plauderte. Das Wandern ist nämlich nicht nur des Müllers, sondern war auch des Musikers Lust - Schubert hat sich von den Eindrücken einer Reise in die oberösterreichische Berglandschaft zu seiner neunten Sinfonie inspirieren lassen.

Schuberts C-Dur-Sinfonie stand auch den Rest des Tages im Zentrum: Nach einer kurzen Mittagspause gab's in der Hörer-Akademie einen Interpretationsvergleich unterschiedlicher Aufnahmen des Stücks von Furtwängler bis Rattle, mit spannenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Wissenschaftler Kube und dem Pianisten Konstantin Lifschitz - aber leider auch mit einer selbstgefälligen, fachlich schwachen Gesprächsführung.

Ganz anders dagegen Festival-Intendant Markus Fein, der anschließend zeigte, was einen guten Moderator auszeichnet - als er mit der für ihn typischen Mischung aus Eloquenz, Enthusiasmus und Kompetenz ein "begehbares Orchester" präsentierte.

Da waren die Instrumentengruppen der Hamburger Symphoniker so im Konzertsaal Verdo verteilt, dass die Zuhörer sich direkt vor und zwischen Blech-, Holzbläser oder Streicher setzen konnten. Mittendrin statt nur dabei! Eine brillante Idee, die das Verstehen der Musik sinnlich spürbar machte und einen spannenden Einblick in die DNA des Stücks gewährte.

Abends dirigierte Hendrik Vestmann dann eine komplette Aufführung von Schuberts Meisterwerk. Faszinierend, wie sich am Ende alle Elemente zum großen Ganzen zusammenfügten. Und das war ja nur ein kleiner Ausschnitt des geistreichen Festivals, das den Begriff der Kammermusik längst in Richtung Orchester, Jazz und Literatur erweitert hat - und das diesmal dem Motto "Ins Labor!" folgt.

Einen Tag nach dem Schubert-Projekt nahmen Geigerin Tanja Becker-Bender und Kunsthistoriker Thomas Sello die Gattung des Capriccio unter die Lupe, bevor sie den 70-Minuten-Marathon aller 24 Paganini-Capricen am Stück absolvierten. Auch das gehört zum Geist von Hitzacker: dass Musiker und das sehr aufgeschlossene Publikum gemeinsam an Grenzen gehen.

Feins Programm fordert seine Hörer immer wieder heraus - und gleichzeitig bezaubert es und wärmt einem das Herz. Zum Bespiel bei einer nicht ganz homogenen, aber beseelten Interpretation des c-Moll-Klavierquartetts von Brahms durch das Boulanger Trio und Bratscher Nils Mönkemeyer: Da wurde das Labor plötzlich zum Schauplatz intimer Botschaften.