Seit 1768 verwahrt das Christianeum Gymnasium in Othmarschen eine der weltweit kostbarsten Dante-Handschriften, den “Codex Altonensis“.

Hamburg. Der Ort ist prosaisch, der Anlass ein besonderer. Weiße Handschuhe sind für alle Beteiligten Pflicht, besondere Sorgfalt beim Umblättern ohnehin. Felicitas Noeske, Lehrerin und daneben Bibliothekarin und Archivarin am Christianeum, präsentiert ihren Besuchern das bedeutendste Stück der Sammlung diskret wie bei einem Geheimtreffen: In einem Raum, der wie vergessen wirkt, hat sie den sogenannten "Codex Altonensis" bereitgelegt, eine Handschrift von Dantes "Divina Commedia" , die seit 1768 im Besitz des in Altona gegründeten Othmarscher Gymnasiums ist.

Für Heinz Willi Wittschier ist es die Erfüllung eines Traums. Der emeritierte Romanist der Universität Hamburg, unter anderem Spezialist für die italienische Literatur, vertieft sich in das kostbare Dokument, das ihm sehr vertraut ist. Wittschier besitzt eine Faksimile-Ausgabe der Handschrift, die zwischen 1350 und 1410/20 entstanden ist. Doch was ist das verglichen mit der Aura des Originals und der einmaligen Gelegenheit, darin zu blättern? Der Romanist, der sich sehr um diesen Ortstermin bemüht hat, begeistert sich für die alten Illustrationen in Gouache-Technik. Er lobt die Frische und Leuchtkraft der vor mehr als 600 Jahren aufgetragenen Farben auf dem partiell abgegriffenen Pergament. Und natürlich preist Wittschier auch die Qualität der Bilder: "Nicht die Textfassung, sondern die zahlreichen üppig kolorierten Illustrationen machen diese Handschrift so bedeutsam", sagt er.

Der schöne Augenblick ist flüchtig, denn der Schatz soll bald zurück an einen sicheren Ort. Nur zweimal wurde der "Codex Altonensis" in den vergangenen Jahren für Ausstellungen ausgeliehen. Aber was ist eine solche Handschrift wert? Eine schwierige Frage, die aber auch müßig ist, denn es handelt sich um ein absolutes Einzelstück, das unersetzlich und unverkäuflich ist.

Der "Codex Altonensis" ist Teil eines großzügigen Geschenks, das sozusagen auf einem Steuersparmodell beruht. Johann Peter Kohl (1698-1778) war Professor in St. Petersburg, bevor er sich 1727 mit einer Jahrespension von 200 Rubel in Hamburg als Privatgelehrter zur Ruhe setzte. Es behagte dem passionierten Büchersammler jedoch nicht, dass das Leben in der Hansestadt teuer war und er zudem hohe Abgaben entrichten sollte. Deshalb sandte er eine Bittschrift an den dänischen König Christian VII.: Kohl bot an, seine prächtige Bibliothek dem akademischen Gymnasium Christianeum zu schenken, wenn er von Hamburg ins dänische Altona umziehe und zeitlebens von Abgaben befreit sei.

Der König entsprach den Wünschen, und das "Donum Kohlianum" wurde vollzogen, indem Kohl seine Bibliothek am 2. Mai 1768 dem Christianeum übergab: insgesamt 18 Manuskripte sowie 52 größere und 466 kleinere Bände. Das bedeutendste Stück davon ist die Handschrift der "Göttlichen Komödie" von Dante Alighieri (1265-1321). Die Frage, wie diese Handschrift entstanden ist, lässt sich nicht mehr klären. Wahrscheinlich ersteigerte Kohl sie im April 1749 bei einer Auktion. Einiges deutet darauf hin, dass die "Divina Commedia" im 14. Jahrhundert als Auftragsarbeit für eine Patrizierfamilie geschaffen wurde, einer Analyse des Sprachduktus und der Eigenart der Bilder zufolge vermutlich in Bologna.

"Dante galt schon früh als Nationaldichter", sagt Wittschier. Sein besonderes Verdienst sei es gewesen, die reiche Sprache des Volkes literaturfähig gemacht zu haben - und sie damit vom Latein zu emanzipieren. "Dantes 'Göttliche Komödie' ist bis heute ein Nationalepos und Pflichtstoff in der Schule. Viele Italiener können ganze Passagen auswendig rezitieren", sagt Wittschier. Zur Erinnerung: 2006 tourte der Filmkomiker Roberto Benigni mit seinem Rezitationsprogramm "Tutto Dante" durch Italien. Eine Million Zuschauer besuchten die 130 Shows. Weitere zehn Millionen sahen die Aufzeichnung des fünften Gesangs aus dem "Inferno" im Staatsfernsehsender RAI Uno.

"Von Dante ist keine einzige Zeile im Original überliefert", erzählt Wittschier. "Die Texte, die wir kennen, sind aus den Handschriften rekonstruiert." Insofern sind sie die Brücke zum Dichter. Das Christianeum verfügt also über einen ziemlich direkten Zugang, den es zu bewahren gilt. Heinz Willi Wittschier preist zum Abschied noch einmal den Zustand des "Codex Altonensis": "Seine Textfassung mag weniger bedeutend sein als andere, aber die illuminierte, also bildliche Handschrift ist einmalig schön, es wurde über Seiten hinweg detailliert gezeichnet. Drei Illustratoren haben daran gearbeitet, der erste im 'Inferno', zwei weitere im 'Purgatorio', das 'Paradiso' blieb unbebildert." Bibliothekarin Felicitas Noeske fügt hinzu: "142 Blätter der Handschrift sind erhalten, zehn fehlen, einige Brandlöcher wurden geflickt. Das Original wirkt haltbar, die Pergamentblätter des Manuskripts bestehen aus Ziegenleder, einem noch immer absolut geschmeidigen Material, das bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit gelagert werden muss. Es gibt keinen Säurefraß."

Den Appell an die Nachwelt hat Dante selbst formuliert: "Je vollkommener eine Sache, desto empfindlicher für gute oder böse Behandlung."