Wie Matthias von Hartz, Leiter des Internationalen Sommerfestivals Hamburg auf Kampnagel, in Avignon vielversprechende Künstler aufspürt.

Avignon. Im Vorraum der Chapelle des Pénitents Blancs in Avignon herrscht drangvolle Enge bei gefühlten 40 Grad. An der Rückwand stapeln sich Heuhaufen. Eine Wildschweinfigur grinst zur Rechten der Bühne auf rotem Samtboden, eine Bettgruft gähnt zur Linken. Dazwischen Erdhügel, Kitschfiguren, ein Grab. In halsbrecherischem Tempo setzt Angélica Liddell in "El Año de Ricardo" einen Monolog ab. Oder besser eine Lawine aus Wortgeröll. Das monströse Scheusal Richard III. brüllt durch sie hindurch. Wie ein gehetztes Tier rast sie über die Bühne. Der ganze Abend ist ein Parforceritt durch die Historie von Geisteskrankheit und Macht. Häufig entblößt Liddell ihr Hinterteil, trinkt Bier, rülpst laut.

Matthias von Hartz grinst: "Die muss ich einladen."

Solch radikale ästhetische Positionen kommen dem Leiter des Internationalen Sommerfestivals Hamburg wie gerufen. Denn die zu entdecken ist er zum vierten Mal hier. Beim Festival d' Avignon, einem der ältesten seiner Art. Und einem der besten. Die spanische Feministin wird hier hoch gehandelt. Aus einer Mischung aus persönlichem Erleben, Kontakten und Gerüchten destilliert von Hartz im Kopf bereits den Spielplan des kommenden Jahres.

Er kommt viel rum. Doch hierher, in die mittelalterliche Stadt der Päpste, reist er am liebsten. Gemeinsam mit den täglich knapp 10 000 anderen Theaterverrückten, die Avignon im Hochsommer alljährlich für drei heiße Wochen heimsuchen, streift von Hartz durch die engen Gassen. Der Asphalt glüht. Überall Menschentrauben. An jedem freien Laternenpfahl stapeln sich die Plakate des Off-Festivals. Das enthält noch einmal mehr als 1100 Vorstellungen von 850 Kompanien mit 6000 Künstlern. Wer will, kann hier von morgens um zehn Uhr bis Mitternacht im Theater sitzen. Frei nach Joseph Beuys ist jeder irgendwie ein Künstler. Die Gruppe, die in blau-weiß-gestreiften Bademänteln Handzettel verteilt und Besucher mit Wasser bespritzt, genauso wie das Duo, das den x-ten Gainsbourg-Bardot-Abend aufführen will. Die Grenze zwischen Kunst und Dilettantismus bleibt unscharf. Wer sich dem Festival ein paar Tage hingibt, braucht eine Weile, um all die Visionen und Albträume hinterher wieder zu sortieren. "Viele stöhnen ja hier. Über die Hitze, die Touristen, die vielen Gaukler. Ich finde es großartig", sagt von Hartz. "Natürlich kann es passieren, dass man Künstler übersieht, weil man zur falschen Zeit da ist, an der falschen Stelle geguckt hat, an dem Tag müde war oder etwas nicht kapiert hat." Drei Wochen auf Talentsuche durch fremde Länder zu reisen, hält er für überflüssig. "Künstler, die schon eine Sichtbarkeit in ihrem Land bekommen haben, sind kaum zu übersehen. Dafür ist das Netz der Leute, die nach ihnen suchen, zu eng."

Von Hartz versteht sich keineswegs nur als Kunstentdecker. Er wolle nicht der Gefahr erliegen, "Architektur zu befüllen", die er beim Stadttheater beobachte. "Ich habe die Aufgabe, einerseits Künstlern das Arbeiten und dem Publikum Kunstgenuss zu ermöglichen." Ganz konkret hat er die Kunst mit dem vom Sommerfestival koproduzierten "Big Bang" von Philippe Quesne und seinem Vivarium Studio ermöglicht, die ebenfalls in Avignon Premiere feiert.

Vor seinem glasklaren Blick und blitzschnellen Verstand findet nur wenig Gnade. "Ich bin ein Nörgler", sagt der Festivalleiter. Für alles, was irgendwie nach Konvention riecht, findet er deutliche Worte des Missfallens. Bekommt plötzlich einen verhangenen Blick. Lieber sitzt er mal eine anstrengende Spanierin aus, als sich zu langweilen. Wenn mitunter das 31. Stück wieder nicht so toll ist, fragt er sich allerdings manchmal, ob das erste vielleicht doch gar nicht so schlecht war.

Wer es denn sucht, kann in Avignon jeden Tag konventionelles französisches Sprechtheater erleben, wie es etwa Christophe Huysmann zeigt. Aber wer will das schon? Matthias von Hartz jedenfalls nicht. "Dieses Traditionsfestival in dieser absurden Stadt hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre soweit transformiert, dass es nicht nur die große französische Geste, sondern auch international relevantes zeitgenössisches Theater zeigt." Über Salzburg wolle er da lieber schweigen.

Regisseur Andreas Kriegenburg, früherer Oberspielleiter am Hamburger Thalia-Theater, der hier erstmals mit seiner dreistündigen Version von Kafkas "Der Prozess" von den Münchner Kammerspielen eingeladen ist, will sich von Hartz "auf keinen Fall" anschauen. Auch Falk Richter habe sich doch stark Richtung Stadttheater entwickelt. Wer die mit Stanislas Nordey entwickelte, bislang rein französischsprachige Produktion "My Secret Garden" mit der wundervollen Performerin Anne Tismer sehen will, muss eine zwanzigminütige Busfahrt in Kauf nehmen. "Das allein ist fast schon ein Grund, sich das zu überlegen", stöhnt von Hartz. Tut er dann doch nicht und ringt stattdessen während der Vorstellung mit anschleichender Müdigkeit. Täglich zwei bis drei Inszenierungen über vier Tage hinweg zehren an der Kondition.

Die Mühsal der theatralen Trüffelsuche wird aber auch belohnt. Zum Beispiel mit dem beglückenden Abend von Anne Teresa de Keersmaeker, die mit Rosas in "En Atendant" Tänzer und Musiker im mystischen mittelalterlichen Innenhof des Cloître des Célestins versammelt, wo sie zu Musik des 14. Jahrhunderts die Papstzeit wieder beleben. Hier in der Dämmerung, wo der berüchtigte Wind des Südens, der Mistral, durch zwei einsame Platanen weht und die Grillen zirpen, in den Bewegungen der Tänzer auf dem staubigen Sandboden, ihren Gesichtern voller Anspannung, löst sich das Versprechen Avignons als sommerlicher Bauchnabel der Bühnenkunst vollständig ein. Ein Abend der puren Magie. "Ich habe die ganze Zeit überlegt, wo man das in Hamburg zeigen kann", sagt Matthias von Hartz hinterher. "Vielleicht im Innenhof des Rathauses?"

Neben künstlerischen Sternstunden wie diesen bietet Avignon vor allem einen aufgedrehten Branchentreff. Von Hartz spricht mit Künstlern, tauscht sich mit Festivalmachern aus, die in Portugal oder Brasilien arbeiten. Alle sind hier wahnsinnig gut gelaunt, haben ihre Existenzialistenklamotten gegen helle Leinenanzüge und geblümte Kleider getauscht. Im Festivalzentrum stößt er auf das Dramaturgenpaar Julia Lochte und Matthias Günther von den Münchner Kammerspielen. "Wie, du arbeitest hier?" fragt Günther ungläubig. "Wir sind doch nicht in Deutschland." Günther weiß, wo man abends die Künstler trifft. Beim Fest in einem lauschigen Garten an der Rückseite des Papstpalastes.

Hier spült des Abends Christoph Marthaler, gemeinsam mit Olivier Cadiot in diesem Jahr "Artiste associé" des Festivals, den Frust über seine bei Kritik und Publikum weitgehend durchgefallene Eröffnungspremiere "Papperlapapp" im Ehrenhof des Papstpalastes hinunter. Falk Richter ist auch da. Von Hartz albert mit Schauspieler Bernd Moss herum. Man kennt sich noch aus gemeinsamen Tagen am Hamburger Schauspielhaus unter Tom Stromberg. Wenn man nicht hier seinen provencalischen Rosé trinkt, dann in der "Bar", einer Art Biergarten in einem stillgelegten Freibad im Stadtzentrum. Wer am Ende des Tages tatsächlich noch überschüssige Energie hat, kann die hier auf der Tanzfläche loswerden.

Nach vier Tagen Eintauchen in den Hexenkessel Avignon ist Matthias von Hartz ermattet, aber glücklich. Mit den Belgiern Antoine Defoort und Julien Fournet und ihrem Projekt "Cheval" verbucht er eine echte Entdeckung. Anne Theresa de Keersmaeker will er bald einladen. Und dass Philippe Quesne seine neue Arbeit "Big Bang", die im August beim Sommerfestival auf Kampnagel läuft, nach der Berliner Voraufführung noch ein wenig nachjustiert hat, beruhigt seine Nerven. Sogar Angélica Liddell könnte es übrigens doch noch in das Programm eines kommenden Sommerfestivals schaffen. "Vielleicht mit einem anderen Stück."