Fünf Dirigenten prägen den Zyklus “Mahler in Hamburg“. Wie sehen sie sein sinfonisches Werk?

Simone Young, Chefdirigentin der Philharmoniker (dirigiert zwischen September und Juni 2011 Mahler I, II, III, VII, X und "Das klagende Lied"): "Mahlers Musik hat mich bei meinen ersten Konzertbesuchen als Teenager fasziniert. Als Dirigentin fand ich erst keinen Zugang zu ihm, seine Musik war mir zu farbenreich, zu naturverbunden. Nach vielen Jahren und dem Lesen einiger sehr erhellender Ausführungen von Adorno entdeckte ich die Komplexität seiner Musik. Sein Klangfanatismus fasziniert und beschäftigt mich seitdem. Ich freue mich darauf, auch Werke von Mahlers Frau Alma zu spielen - ihre umstrittene Persönlichkeit als Femme fatale gehört zum Mahler-Mosaik ja unbedingt dazu. Neuland gibt es für mich zu entdecken, wenn ich Mahlers Zehnte mit John Neumeier herausbringe. Mein Lieblingswerk von Mahler bleibt aber das Friedrich-Rückert-Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen". So viel Schmerz und Schönheit in einem Lied berühren mich."

Christoph Eschenbach (dirigiert am 14.7. Mahler V, später IV und VIII): "Ich glaube, es ist die Direktheit, mit der Mahler wie keiner zuvor Wunden aufdeckt und gleichzeitig Heilung anbietet - auf dem Weg der Metaphysik. Seine Musik entstand in einer Zeit des Aufbruchs, der Psychoanalyse, noch dazu in Wien. Ich denke, das hat ihm die Tür geöffnet, seine Seele zu präsentieren, ohne Schminke. In der Sinfonik kommt nach ihm eigentlich nur noch Schostakowitsch, ohne doch die mahlersche Amplitude vom Irdischen zum Metaphysischen zu erreichen."

Alan Gilbert, Erster Gastdirigent des NDR SO (dirigiert am 30.8. das "Lied von der Erde", später Mahler VI): "Ich dirigiere meine Lieblingssinfonie von Mahler, die Sechste. Ein Werk von tiefer Verzweiflung und Pessimismus, das absolut niederschmetternd endet. Trotzdem deckt diese epische Sinfonie in ihrem Verlauf von Anfang bis zum Ende die ganze Erfahrung des Lebens ab, und ich glaube, dass manche Passagen darin zur ekstatischsten, unbeschreiblich glücklichsten und schönsten Musik gehören, die Mahler je geschrieben hat. Die drei Hammerschläge am Ende klingen beängstigend, es sind Schicksals-Schläge. Mahler glaubte, dass Vorherbestimmung und Schicksal im Leben eine ungeheuer wichtige Rolle spielen."

Michael Gielen (dirigiert am 23./26. September Mahler IX): "Mir ist unverständlich, dass die 7. Sinfonie die am wenigsten gespielte ist. Das ist wie in der modernen Musik: Man muss sich damit auseinandersetzen, damit leben, dann ist sie nicht mehr fremd. Mahler hat die Inhalte der Schönberg-Schule mit tonalen Mitteln vorweggenommen. Seine Musik verhandelt die Konflikte der Gesellschaft und der Psyche des 20. Jahrhunderts. Gerade die 7. Sinfonie verweist mit der Prädominanz der Quarten auf Schönbergs Kammersinfonie."

Jeffrey Tate, Chefdirigent der Hamburger Symphoniker (dirigiert im Januar 2011 Mahler IV): "Ich bin kein großer Mahlerianer, zumindest nicht, was seine Sinfonien betrifft. Seine Orchesterlieder dagegen liebe ich sehr, und ich bedauere es immer wieder, dass er keine Opern geschrieben hat. Seine Vokalwerke sind dermaßen schön, die Sinfonien dagegen erscheinen mir oft überfrachtet bis zum Masturbatorischen. Die Vierte finde ich sehr interessant, auch weil sie oft missverstanden wird. Es ist ein dunkles Werk, in dem es um den Tod geht - aber das trifft ja auf alles von Mahler zu."