Das 20. Festival JazzBaltica in Salzau bot exzellente Musik, wie zum Beispiel von Posaunist Nils Landgren. Es zeigte aber auch Schwächen.

Salzau. Im Grünen Salon, einem schummrig beleuchteten Raum im Kulturzentrum Salzau, drängen sich bei der JazzBaltica nachts die Musiker, hungrig auf ein Freispiel nach der Pflicht auf der Konzertbühne. Durch die geöffnete Flügeltür können sie die ebenerdige Bühne im Nachbarraum sehen. Auf dem Parkettfußboden dahinter hocken die Nachteulen, nimmersatt auf Jazz wie sie selbst. So muss es früher gewesen sein, als sich experimentierfreudige Jazzmusiker nach ihren Abendjobs am Broadway noch in Klubs und Hinterzimmern an der 52nd Street oder in Harlem zum Jammen trafen. Und so ist es früher nie gewesen. Denn das hier ist die Luxusversion von After-Hours: Landliebe-Jazz made in Salzau.

Sonntagmorgen, halb drei Uhr. Der amerikanische Schlagzeuger Matt Wilson steht im Grünen Salon und ruft unentwegt: "Go, Baby, Go!" Wie ein Dispatcher am Taxistand auf dem Flughafen teilt er den gut zwei Dutzend Musikern ihre Spielzeit zu. Mal schiebt er den einen, mal den anderen durch die Tür. Eine kleine unbekannte Saxofonistin aus Norddeutschland traut sich nicht. Aber Wilson spürt, dass sie sich hinterher furchtbar ärgern wird, wenn sie nicht die Chance ergreift, mit ein paar Meistern zu spielen. Deshalb lässt er nicht locker und trägt die junge Dame fast zum Jagen. Die Leute halten vor Spannung den Atem an, als sie endlich ihr Saxofon an die Lippen setzt und zu den unfassbar schnellen, präzisen Schlagzeug-Beats von Eric Harland, dem wilden, enzyklopädisch gebildeten und doch ganz eigenen Klavierspiel von Jason Moran und dem federnden Bass von Ben Williams ihre eigene Geschichte zu erzählen beginnt.

Wie gut der Generationenvertrag im Jazz auch über alle Grenzen hinweg funktioniert, erlebt das Publikum kaum je so direkt wie bei solchen Szenen auf JazzBaltica, wo sich das Besetzungskarussell der Nachtsessions bis zum helllichten Morgen in immer neuen Konfigurationen dreht. "Pass It On" heißt beziehungsreich eines der Stücke, die der Kontrabassist Dave Holland am Sonntagmittag in der Großen Scheune solo spielt: Gib weiter, was du kannst und weißt über die Tradition und Geschichte, über den Geist und die Kniffe im Jazz. Behalt es nicht für dich.

Die 20. Ausgabe der JazzBaltica wird in die Annalen der Festivalgeschichte eingehen als das klimatisch heißeste Freundschaftsspiel-Wochenende, das es hier je gab. Nach höchst mauem Beginn mit dem JazzBaltica-Ensemble unter der Leitung von Martin Wind gewann Nils Landgren später am Abend mit "Big Funk" - einer Liaison zwischen seiner Funk Unit und der NDR Bigband - selbst Skeptiker im Sturm. Wie es diesem noch beim 17. Solo von neuen Ideen inspirierten Posaunisten und begnadeten Entertainer gelang, auch nach zwei Stunden die Energie dieser brodelnden Elefantenformation hoch zu halten, ließ an die nächtelangen Tanzfeste denken, die afrikanische Volkshelden wie Youssou N'Dour zu entfesseln vermögen.

Das extrem gehypte Portico Quartet aus England entzauberte sich auf der Bühne als ein aufgeblasenes Wenig aus Radiohead und Mike Oldfield, Eberhard Weber und Gamelan-Klingklang, Terry-Riley-Pattern und dem frömmlerischen Sopransaxofon Jan Garbareks, nur ohne die originäre Kraft der Genannten. Charles Lloyd beschwor etwas intonationsgetrübt auf der Querflöte und in beglückender Altersabgeklärtheit auf dem Tenor die 60er-Jahre zwischen John Coltrane und Woodstock herauf. Im Übrigen überließ er den drei fantastischen jungen Musikern seines New Quartet die Show, wobei er seine Rumbakugeln und manchmal nur sich selbst schüttelte wie ein Schamane auf Acid.

Lars Danielssons Tarantella brachte mit Schlagzeuger Magnus Öström den Tüftelgroove-Fanatiker des verblichenen Trios e.s.t. zurück nach Salzau. Das Quintett verführte mit einer melodiegetränkten und leidenschaftlichen, dabei bewundernswert diszipliniert gespielten Musik, der die Sängerin Caecilie Norby mit ihrem zwischen Rauschgoldengel und Schwarzer Witwe changierenden Gesang eine bisweilen Gänsehaut erzeugende Farbe beimischte.

Aus ihrer nahezu ungeprobten Duo-Begegnung machten die Artists in residence Nils Landgren und Michael Wollny eine heitere und tiefsinnige Meditation übers Improvisieren an sich. Während Landgren mit seiner dünnen, aber in jeder Frequenz von Herztönen beschwingten Stimme Stings "Fragile" sang, sorgte Wollny mit lichten Klängen auf dem teilweise präparierten Klavier für einen wohltuenden V-Effekt.

Das Land Schleswig-Holstein ist gerade dabei, sich von JazzBaltica zu verabschieden und von seinem Schauplatz gleich mit. Salzau soll verkauft werden, der Staat hat keine Subventionen mehr übrig. Die Besucher lieben das Festival, die Musiker ebenso, und die Sponsoren wollen ihm, wie man hört, auch ohne Staatsknete gewogen bleiben. So hängt sein Überleben nur am Vermögen zur durchdachten Improvisation. Daran sollte es im Jazz nicht mangeln.