Peter Wawerzinek gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis - eine Bilanz des Wettbewerbs, der so entspannt war wie selten.

Klagenfurt. "Friedl" hat die Ruhe weg. Dümpelt hinten auf dem veralgten Kanal, der sich schnurgerade zum Wörthersee zieht. "Friedl" ist ein breiter weißer Kahn. Über uns, über dem Elisabethsteg, bricht die Sonne durch. Der Kai hinter uns ist leer. Ein paar Tische, ein paar Stühle. Eine Bar unter einem hölzernen Baldachin in Aubergine. Die Literatur steht davor, auf einem Altar aus Büchern, und ist ziemlich flach, aber breit - der Bildschirm fürs Public Viewing der 34 Tage der deutschsprachigen Literatur vulgo Bachmannpreis im Klagenfurter Lendhafen.

So entspannt war man selten beim Wettbewerb. Alle in der Stadt hatten sie scheinbar ihren Frieden mit ihm gemacht. Die Sponsoren konnten gehalten werden (sogar die ultramarode Bank Hypo Alpe Adria). Er eckte auch nicht an, wie vergangenes Jahr, als Josef Winkler, der Klagenfurter Büchnerpreisträger, das Wettlesen mit einer fulminanten Rede wider die Haiderei in Klagenfurt eröffnet hatte, die alles in den Schatten stellte, was hinterher an Texten kam. So wagte sich das Wettlesen dem Fußball hinterher nach draußen, ins Freie. Und die Literatur kam sogar mit. Raus aus den Eigenheimen, raus aus den engen Köpfen der irren Weltverlorengeher. Es war Welt vorhanden in den Texten.

Während es früher Jahrgänge gab, die kein Thema hatten, aber prima erzählen konnten, war dieser Jahrgang anders. Vertreibung, Gewalt gegen Frauen, vernachlässigte Kinder, Piraterie, Erinnerungsarbeit an Zeit- und DDR-Geschichte, Leben in der Postapokalypse - sie hatten durchaus was zu erzählen, konnten es aber nur in den seltensten Fällen wirklich überzeugend.

Josef Winkler, der ewige Stachellöcker gegen die vorgeblich Freiheitliche Kärntner Politikkamarilla, kommt vorbei am Lendhafen. Entspannt. Auch das ist beruhigend. "Wir leben in weichen Zeiten", hatte Sibylle Lewitscharoff noch in ihrer Eröffnungsrede konstatiert und sich härtere Tage in Kritik und Literatur gewünscht. Mehr Leidenschaft, mehr Mut zur Wut. Alles, was den Klagenfurter Texten fehlte. Selbst wenn sie, wie Judith Zanders allzu elegische, eigentlich verzweifelte Mutterwerdungsgeschichte aus dem tiefen Grau der Siebziger in der DDR, auch noch mit einem Preis ausgezeichnet wurden. Man wollte so gerne einfach mal angeschrieen werden. Man wäre so gern mal vor der Wucht eines Textes in die Knie gegangen. Vor der sprachlichen, der emotionalen, erzählerischen, vor irgendeiner Wucht.

Es war ein durchaus knieschonender Wettbewerb. Nur einmal gab es einen richtigen Furor, ganz am Schluss. Ein Rasen, einen Strudel. Aber der kreiselte in rasender Geschwindigkeit um sich selbst. Verena Rossbacher, in Berlin lebende Österreicherin, veranstaltete einen Hochgeschwindigkeitstaumel durch ein Wimmelbild. Einen dichten Schwarm aus Wörtern ließ sie los, so dicht, dass man kaum etwas sehen konnte. Vielleicht einen Familienmörder. Man wusste es nicht. Man verliert den Halt. Gewagt, manieriert, aber endlich mal atemberaubend. Am Ende ging Rossbacher aber gänzlich leer aus.

Peter Wawerzinek wühlt sich durch seine Kindheit. Er hat viele Töne dafür. Er hat eine große Verzweiflung. Seine Mutter hat ihn im Stich gelassen, damals, als er vier war, ist in den Westen. Traumatisiert hat ihn das. Jetzt - Wawerzinek ist 56 - hat er einen großen Wintergesang daraus gemacht. Einen Text übers Winterkind, das er war, über Verlassenheit, Vernachlässigung, übers Zur-Sprache-Kommen. Er liest mit brüchiger Stimme. Es ist ein Roman, der so anfängt. Er wird im Herbst erscheinen. Und der Text, den Wawerzinek daraus liest und für den er am Ende sowohl den Bachmannpreis als auch den Publikumspreis bekommt, hört einfach so auf. Davon gab es etliche. Romananfänge, Romanmittelteile, Romanpasticcios. Sie erscheinen im Juli, im September. Sie machen hier Werbung für sich. Das war schon immer so, diesmal hatte es einen Geschmack. Nichts gegen Romananfänge, Romanauszüge, Romanentwurfsauszüge. Es waren prima Bachmannpreisträger: Inka Parei, Uwe Tellkamp, Thomas Lang. In diesem Jahr aber hörten sie sich allzu oft an wie Arbeitsproben, ausgearbeitete Exposés. Man wusste gar nicht, wann zu klatschen war. Klagenfurt verkommt so zum Reader's-Digest-Festival, wird vom Wettbewerb der Anfänger zum Wettbewerb der Anfänge.

Aleks Scholz hat die Welt von oben betrachtet. Mit dem kalten Blick des Wissenschaftlers zoomt sich der studierte Astronom und Literaturdebütant von draußen im All auf seine Figuren. "Google Earth" heißt sein Text. Und so funktioniert er auch. Vollkommen empathiefrei, vollkommen unpsychologisch beobachtet er Trampe und Liebke, zwei Nachbarn im Geviert ihrer Höfe irgendwo auf dem Land. Rätselhaft bleibt alles. Nichts wird erklärt. Durch die Erdgeschichte wird gezoomt und in die Schubladen von Liebke. Niemals aber in die Köpfe geschweige denn die Herzen. Kühl wird einem angesichts der kalten Konsequenz, mit der Scholz seinen Blick durchhält und die halbe Lesestunde durchkonstruiert. Makelloser gebaut, innovativer erzählt war nichts sonst in Klagenfurt. Er hätte durchaus mehr verdient als den 3sat-Preis, den er mit nach Berlin nahm.

Dorothee Elmiger erzählte eine Mädchengeschichte aus postapokalyptischen Zeiten. Mit ziemlich verlockender Spielfreude setzt die 25 Jahre alte, in Berlin lebende Schweizerin aus Fragmenten ihren fabelhaften Text von einem Geschwisterpaar zusammen. Es ist ihm nicht viel geblieben. Ein Gebiet, unter dem in den Kohleschächten ewige Feuer brennen. Und Bücher, eine höchst kunstvoll lückenhafte Bibliothek. Es bricht dann auf. Und der Text, der schließlich doch zu Recht den Kelag-Preis erhielt, bricht dann ab.

Man kann träumen, in Klagenfurt. Von einer Jury, die endlich erwacht aus den weichen Zeiten der öffentlich-rechtlichen Wohlanständigkeit und wirklich konsistente Kategorien für die Bewertung von Texten entwickelt. Von Texten, die einem den Atem nehmen. Nächstes Jahr am Lendhafen.