Je mehr Musik wir besitzen, desto schwieriger fällt die Auswahl. Ein Plädoyer gegen die Klang-Tapete und für die Konzentration auf Wesentliches.

Hamburg. Hans Castorp, der tragische Einsiedlerheld in Thomas Manns "Zauberberg", hatte es bei der Frage "Was soll ich bloß hören?" viel einfacher als wir im Jetzt und Hier.

Trostspender des Hamburger Kaufmannssohns gegen den "großen Stumpfsinn" im Davoser Lungensanatorium war ein Grammofon; im Kapitel "Fülle des Wohllauts" wird von den "Wundern der Truhe" geschwärmt, von den "blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sargs aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens". Der drohende Erste Weltkrieg blieb - vorerst - vor der schützenden Einzelzimmer-Tür. Es gab unter anderem etwas "Aida", etwas "Carmen" und Schuberts melancholischen "Lindenbaum".

Bleibende Werte waren das, damals, viel mehr musste nicht sein für den klassischen Bildungsbürger von Welt. Froh zu sein, bedarf es wenig, sagte man sich und richtete sich danach. Es brauchte Muße, um dieses Kulturgut zu würdigen. Je mehr die Schellackplatten, als Zeichen der Bewunderung ihrer Inhalte, gespielt wurden, desto näher kamen sie, wie die Zuhörer, ihrer Endlichkeit. Das waren noch Zeiten.

Inzwischen ist der klassische Bildungsbürger vom Aussterben bedroht, das mattschwarze Tempelchen, mit dem man seine Götter zu sich rufen und begeistert verehren kann, ist jetzt der WLAN-Router, unsichtbar in der Wohnung verborgen, der einem virtuelle Musikmassen aus dem Internet in die Gehörgänge pumpt. Oder eine klitzekleine Festplatte, die dank unendlich viel günstigem Speicherplatz wochenlang ununterbrochene Beschallung ermöglicht. Das Konzept CD ist überholt, das Konzept Album ist ebenso von gestern wie einst das Gaslicht, wie Castorps museales Grammophon.

Der Tonnograf

Die Gretchenfrage in diesem Falle lautet dann: "Was soll ich bloß hören?"

Gut gefüllte CD-Regale machen die Sache auch nicht einfacher, im Gegenteil. Früher oder später ergeben sich doch griffbereite Stapel in der Nähe der Anlage, die nie viel höher sind, als man an ein, zwei unabgelenkten Abenden bewältigen kann. Der Rest ist sichtbares Haben, aber konsequentes Verschweigen. CD-Sammlungen sind zu Klang-Tapeten auf Abruf degeneriert, deren gestapelter Wert unwiederbringlich ins Sentimentale und Staubfängerische absackt. Musik wird nicht mehr besessen und als Eigentum betrachtet, sie wird genutzt, gebraucht, aufgebraucht, ausgewechselt und nachgeladen. Musik kann überall sein, schlimmstenfalls darauf lauernd, endlich entdeckt zu werden. Kopfhörer-Träger in der U-Bahn setzen ihre Musikauswahl als immunisierende Schall-Schutzwand gegen die Gegenwart ein.

Virtuelle Plattensammlungen erzeugen erst den Hunger nach immer mehr, weil man nicht mehr sieht oder berühren kann, wie viel man schon hat. Und natürlich hat man, klare Sache für Sammler, immer viel zu wenig. Dateien könne man nicht lieben, hieß es neulich im "Spiegel", was schön klingt, aber dennoch falsch ist. Das erste gute Stück Musik vergisst man ebenso wenig wie den ersten Kuss. Welchen Aggregatszustand diese Töne haben, ist zweitrangig.

+++ Die drei Lieblingsalben von drei Hamburger Kulturschaffenden +++

Wir werden unaufhörlich Musik ausgesetzt, soziale Netzwerke zeigen uns, Daumen hoch oder nicht, was die anderen so hören. Die seelenlosen Algorithmen (schönes Wortspiel ...) der weltumspannenden Internet-Supermärkte nötigen uns errechnete Empfehlungen auf, was wir demnächst hören sollten, bloß weil wir uns für etwas Ähnliches interessiert haben. Tausende von Webradio-Stationen (allein in Deutschland über 3000 Sender, die laut einer aktuellen Studie 3,2 Millionen Menschen täglich nutzen) versorgen uns mit mehr Musik, als wir je begreifen, gut oder unnötig finden könnten.

Das Shuffle-Prinzip, jenes Musik-Lotto, mit dem MP3-Player daran erinnern können, welche Titel man vielleicht einmal gemocht hatte, treibt dessen Anwender, wohlmeinend gehorchend, in den Wahnsinn der Reizüberflutung, weil das nächste Stücke ja immer noch etwas schöner sein könnte, es deswegen aber nicht unbedingt ist.

Möchte man viel Lebenszeit damit verschwenden, für jede Situation die womöglich passende Titel-Kombination zusammenzustellen? "Händel-Arien für warme, verregnete Sonntagnachmittage, an denen man mit dem Schicksal hadert"? "Coltrane-Soli gegen den Besuch der Schwiegermutter"? "Wagner-Szenen zum enthemmten Mitsingen?" "Mittelgute junge Gitarrenbands, die wieder nur klingen wie bessere ältere Gitarrenbands"? Wie viele Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sinfonien oder von Wagners "Ring" sind nicht nur denkbar, sondern wirklich nötig?

Kein Wunder, dass das Geschmackszentrum vor dem ästhetischen Überdruck solcher Entscheidungen kapituliert und kleinlaut sagt: Früher war doch auch nicht alles schlecht. Ein paar Handvoll Musik, in der man Zuhause ist, einige Stunden nur, das kann für ein ganzes Leben genügen. Mit etwas Glück sogar für ein etwas besseres Leben als ohne sie.