Der schwedische Jungschauspieler Jonatan Wächter spielt in “Simon“ ein jüdisches Pflegekind - und findet in Hamburg seine Wurzeln.

Ein Vater und ein Sohn auf der Leinwand, in Göteborg zur Nazizeit. Seltsam fremd fühlt sich ihre Beziehung an. Wie ein künstliches Gelenk, das nicht zum Körper passt. Simon liebtBücher und Musik, sein bester Freund ist eine knorrige Eiche, der er seine Geheimnisse in den Blätterwald flüstert. Der Vater (Stefan Gödicke) ist ein grobschlächtiges Würstchen - kein Ekelpaket, aber niemand, der ins Herz vordringt. Für das Rauschen der Baumwipfel, für fremde Länder, für Geschichten als Seelennahrung ist er blind. "Simon" heißt der deutsch-schwedische Film nach dem Hauptdarsteller; er ist nach der Premiere vergangenes Jahr auf dem Filmfest Hamburg nun ab Donnerstag im Kino zu sehen.

Ein Vater und ein Sohn in der Realität, fast sieben Jahrzehnte später in einem Hamburger Café an einem regenfrischen Tag mit einem Rest Sommer in der Luft. Ein ähnliches Familienbild wie die Kinoszene und doch völliganders. Jonatan Wächter, der die Rolle des Simon spielt, ist mit seinem Vater zu Besuch in der Stadt - jener Stadt,wo sein jüdischer Großvater lebte, bevor er im Alter von 25 Jahren vor den Nazis floh und sich in Schweden ein neues Leben aufbaute. Torkel Wächter, der Vater, hat dieselben Augen wie sein Sohn. Augen wie blank polierte Kieselsteine auf dem Meeresgrund. Schützend legt der Mann im Gespräch seine Arme um die Schultern des elf Jahre alten Jungen - man denkt an eine Auster, die die Perle in ihrer Mitte umschließt. Mit einem Mal weiß man wieder, wie sich Familie anfühlen sollte in der perfektesten aller Welten. Wie ein Rettungsboot auf rauer See.

Es ist die erste Rolle in seinem noch jungen Leben, die Jonatan Wächter im Film der Regisseurin Lisa Ohlin nach dem gleichnamigen Bestseller vonMarianne Frederiksson spielt. Sein Auftritt ist von einer Natürlichkeit und einem Ernst, der einen schaudern lässt. Fast unbewegt, niemals lachend, in der Kindheit nicht mehr zu Hause, erzählt sein Gesicht eigentlich schon die ganze Geschichte. Die Geschichte von einer Welt ohne Mitleid, die Kinder nicht Kinder sein lässt und Familien auseinanderreißt.

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Titelheld Simon ist der Sohn einer Handwerkerfamilie, der sich auf dem Schulflur mit dem jüdischen Klassenkameraden Isak Lentov aus besseren Verhältnissen anfreundet und ihn vor den mit den Nazis sympathisierenden Mitschülern beschützt. Zwei Jungen, zwei Welten, ein Schicksal. Denn auch Simon, erfährt der Zuschauer später, hat jüdische Wurzeln, seine leiblichen Eltern haben ihn zu seinem Schutz in eine Pflegefamilie gegeben. "Das Thema Familie beschäftigt mich sehr. Fast jede Familie birgt ein Geheimnis, und es wirkt in jedem Familienangehörigen", sagt Regisseurin Ohlin über "Simon".

Seltsam habe es sich angefühlt,dass Jonatan einen fremden Mann mit "Vater" anrede, sagt Torkel Wächter. Seltsam schön - weil der Sohn so überzeugend war auf der Leinwand, ohne je mit einem Schauspiellehrer geübt zu haben, dafür mit einem beinahe angeborenen Verständnis für die Tragik und die unsichtbaren Erschütterungen des Stoffes. Vielleicht das berühmte Schauspieler-Gen? Jonatans Großonkel Max Wächter war Schauspieler von Beruf, stand unter anderem auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele. Ach überhaupt Hamburg. Die Stadt ist ein Fixpunkt im Leben der Wächters. Hier setzt Sohn Torkel fort, was sein Vater Walter einst begonnen hat. Hamburg, sagt Torkel Wächter, solle für seine Kinder ein Stück Heimat werden. "Wenn man seine Geschichte kennt, kennt man sich selbst", sagt der Mann, der früher als Model sowie Pilot gearbeitet hat, heute als Schriftsteller sein Geld verdient und nicht nur auf den ersten Blick aussieht wie der junge Paul Auster.

Man darf nie vergessen, woher man kommt. Das erzählt die Geschichte von "Simon", auf den in Schweden alle wichtigen Filmpreise einprasselten - wie auch die Geschichte der Familie Wächter. Im Film macht sich die Hauptfigur auf die Suche nach ihren Wurzeln, ein schmerzhafter Weg, weil die Zeiten grausam sind für jüdische Bewohner, weil die Schicksale nur selten ein Happy End haben. Im wahren Leben hat sich Torkel Wächter auf Spurensuche begeben. Was sein eigener Vater ihm nicht geben konnte, wollte er seinen vier Kindern nicht vorenthalten: ein Bewusstsein dafür, wer man ist, von wem man abstammt. 32.postkarten.com heißt Wächters Internetprojekt, in dem er Postkarten seiner Großeltern veröffentlichte, die diese in der Zeit von 1940 bis 1941 von Hamburg aus an ihren Sohn schrieben - die letzte Karte unmittelbar vor ihrem Transport in ein Konzentrationslager bei Riga. So schmerzhaft die Vergangenheit sein kann, so heilsam kann es sein, sie zu kennen.

Für Simon hält das Leben im Göteborg der 40er-Jahre das Gegenteil einer Klavierstundenkindheit bereit. Einziger Lichtblick ist die Freundschaft zu Isak und seinem Vater, dem intellektuellen Buchhändler Ruben Lentov, gespielt von Jan Josef Liefers, der mit dem Jungen Konzerte besucht, dessen innere Zerrissenheit ernst nimmt. Mit Jonatan Wächter dagegen hat das Schicksal es gut gemeint: Er besucht die deutsche Schule in Stockholm, ist ein guter Schüler, Schwimmer, seine Familie ist Heimat für ihn. Heimat, Hafen, Ende der Kreuzfahrt. "Jonatan hat es hoffentlich leichter im Leben als Simon", sagt Torkel Wächter, der Vater, der sein Kind beschützen will vor der Welt wie vermutlich jeder Vater. Und der ihm doch die Wahrheit zumutet.

Von Wahrheit und Lügen erzählt "Simon", von Eltern und Kindern, Neurosen und Psychosen, verletzten Gefühlen und Licht am Ende eines sehr langen Tunnels. In Hamburg drehte das Team die Szenen in Jonatans Elternhaus, in dem die Decken niedrig sind und die Stimmung gedrückt ist. Nachträglich hineinmontiert wurde das unfassbar blaue Licht der schwedischen Westküste. Der Hamburger Himmel zeigt sich an diesem Nachmittag von seiner regenbogenfarbenen Seite; Torkel und Jonatan Wächter verschwinden auf den nassen Straßen, Seite an Seite. Ein Vater und ein Sohn. Manchmal gibt diese Beziehung ein Leben lang Halt. Manchmal wird daraus ein Film.