Was das deutsche Fernsehen von der neuen HBO-Serie “The Newsroom“ über den Unterschied zwischen “Gut“ und “Großartig“ lernen kann.

Hamburg. In den nächsten Tagen werden wir den Anfang vom Ende des deutschen Fernsehsystems erleben. Aber nicht, weil alle Talkshows und der "Tatort" eingestellt werden und man zeitgleich den Moderations-Klon PilawaPflaumeHirschhausen auf Nimmerwiedersehen in die Wüste schickt. Es beginnt zu enden, weil am Montag ein deutscher Bezahl-Sender, nur wenige Stunden nach ihrer US-Premiere, die erste, noch unsynchronisierte Folge einer amerikanischen TV-Serie anbietet, in der sich alles um einen New Yorker Nachrichtensender dreht. Eine zu steile These, weil ein Nischenprogramm ofenwarm importiert wird? Nur, wenn man in verjährten Kategorien denkt, schreibt, produziert, sendet und sieht. Was hierzulande die Regel ist.

"The Newsroom" (produziert für den Bezahl-Sender HBO, hierzulande beim Bezahl-Sender Sky zu haben) ist das neue Projekt des Edel-Autors Alan Sorkin. Sorkin hat das Drehbuch für "Social Network" verfasst, den Film über Facebook-Gründer Mark Zuckerberg gedreht, und dafür einen Oscar erhalten. Er hat in der TV-Serie "The West Wing" sieben Jahre lang in rasant schnellen und geistreichen Dialogmassen beschrieben, was vor und hinter den Kulissen des Weißen Hauses passiert.

Sorkins jüngstes Thema ist das Hollywood-Libretto für einen Film über Apple-Gründer Steve Jobs. Sorkin ist ein Großer, ein Player. Ein Autoren-Gott. Einer, der weiß, wovon er spricht, wenn er "Vanity Fair" sagt, dass das beste amerikanische Theater im Fernsehen passiert. Einer, der seine Charaktere poliert, bis sie funkeln. Dabei interessiere ihn, wie er dem "Wall Street Journal" sagte, nicht der Abgrund zwischen Gut und Böse, der Anti-Helden so faszinierend macht. Er sei auf den Unterschied zwischen Gut und Großartig aus.

Die Hauptrolle in "The Newsroom" übernahm Jeff Daniels, als kompromissloser Anchorman Will McAvoy wütet er zwischen stoffeligen Mittzwanzigern und schmettert als Erziehungsmaßnahme auch mal sein Handy gegen die laufende Kamera. Sein Ziel, ohne Wenn und Aber: Qualität, nicht nur Quote. Das eint diese vielversprechende Geschichte mit ihrem Sender HBO - und trennt sie weltenweit von den deutschen Verhältnissen.

Zwei Pointen hat diese Angelegenheit allerdings: Sorkins Dialoge sind berüchtigt für ihre Flughöhe und ihr Tempo. Dabei unsynchronisiert mitzuhalten, wird nicht einfach sein und manche eher vergraulen als verzaubern; die Synchronfassung folgt im Herbst. Ein Teil der Zielgruppe wird am Montag vergebens in den Flachbildschirm sehen, weil die knapp neun Millionen Kunden von Marktführer Kabel Deutschland die reguläre Ausstrahlung des neuen HD-Angebots von Sky nicht nutzen können. "The Newsroom", das erste Kapitel der Revolution, findet unter Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit statt, die Quote wird garantiert homöopathisch sein. Harmloser wird das Ganze dadurch nicht.

"It's not TV, it's HBO." Der Werbespruch ist vier Jahrzehnte alt, aber er stimmt mehr denn je. Fernsehen ging in den USA - und auch hierzulande - immer anders, mit festen Sendezeiten und Spielregeln, was man sagen und zeigen durfte. Für seine Kunden bietet HBO Delikatessen an, seit einigen Jahren vor allem clevere, komplexe Fernsehserien. Ohne Werbung erzählt, ohne störende Unterbrechungen der Dramaturgie. Dort darf - anders als im regulären Programm - ausgiebig nackte Haut gezeigt und auf Vier-Buchstaben-Niveau parliert werden. Die "Sopranos" oder "Six Feet Under" haben auf diesem Niveau Maßstäbe gesetzt. Für "Boardwalk Empire" war Hollywood-Altmeister Martin Scorsese mit im Boot, um nur für die erste Episode der Geschichte eines korrupten Politikers einen Etat für 20er-Jahre-Kostüme und -Kulissen auf den Kopf zu hauen, mit dem andere ganze Filme drehen.

Als Alan Ball, der für das "American Beauty"-Script einen Oscar erhalten hatte, den HBO-Entscheidern seinen Entwurf für die Bestatter-Serie "Six Feet Under" vorlegte und sich kaum Hoffnungen machte, damit Gnade zu finden, war die Reaktion: "Geht's nicht noch etwas abgedrehter?" In "The Wire", einem Epos in fünf Staffeln über den Niedergang der amerikanischen Metropole, bestritten zwei Polizisten eine Tatortbesichtigung mit nichts außer dem Wort "Fuck!" in vielen schönen Variationen. Vier Minuten feinstes Kammerspiel, das sich die Autoren gönnten, nachdem TV-Kritiker gemäkelt hatten, es würde zu viel geflucht.

Die 2008 nach fünf Runden beendete Serie über Leben und Sterben in Baltimore hat dank weltweiter DVD-Vermarktung Kultstatus, obwohl sie keinen einzigen Emmy erhielt und am Ende drei Viertel ihrer Zuschauer verloren hatte. Beides war kein Problem für die Macher rund um den ehemaligen Polizeireporter David Simon. Denn Präsident Obama schwärmte von dem schwulen Kleinkriminellen Omar Little, der in "The Wire" in bester Robin-Hood-Manier Drogendealer ausnahm. Wer auf diesem Niveau gesehen und verehrt wird, braucht keine Blattgold-Staubfänger fürs Ego.

Während in anderen Bereichen der Unterhaltungsindustrie verzweifelt über zukunftsfähige Bezahlmodelle nachgedacht wird, die der Gratis-abstauben-Mentalität im Netz noch etwas Sinnvolles entgegensetzen können, haben Serien-Fans, die juristisch sauber bleiben wollen, in den USA eine Kampagne gestartet: "Take My Money, HBO!" Ein virtueller Bettelbrief, um für einen Streaming-Dienst der Drogen ihrer Wahl anständiges Geld bezahlen zu können, ohne ein Kabel-Abo buchen zu müssen, bei dem dieses Streaming im Preis inbegriffen ist. Deswegen wird wenig anderes so oft illegal im Internet kopiert wie neue HBO-Serien.

Das Betteln ihrer Nicht-Kunden hat der Abo-Sender vor einigen Wochen zwar erfreut registriert, aber keine Änderung an seinem lukrativen Kabel-Geschäftsmodell vorgenommen. Obwohl andere Sender ihre Produkte immer zeitnaher zum Kauf auf DVD oder bei Portalen wie iTunes oder Netflix anbieten, lässt sich HBO bei diesen Einnahmequellen Zeit und verkauft lieber in 150 Länder und an andere Pay-TV-Sender, wie jetzt in Deutschland an Sky. Dort läuft die zweite Staffel des Fantasy-Epos "Game of Thrones", deren Folgen in den USA bis zu 2,5 Millionen Mal pro Tag heruntergeladen wurden.

Um das geflügelte und gehässig wahrheitsnahe Wort von Sky-Neuanschaffung Harald Schmidt aufzugreifen: HBO-Serien sind als Oberschichtenfernsehen gedacht, das nur noch zufällig im Fernseher stattfindet. Produziert wird es für Kunden, denen das Durchflöhen von Internet-Tauschbörsen zu mühsam und zu anrüchig ist und die es sich leisten wollen, wenig, dafür aber Gutes zu konsumieren: "Treme", die nächste David-Simon-Serie über Musiker und Lebenskünstler in New Orleans nach Hurrikan Katrina, wäre passend zum Gumbo mit Zutaten aus dem Bio-Supermarkt. "True Blood" - scharfe Vampire treffen auf Südstaaten-Hinterwäldler - ist das Richtige für Mütter, denen die "Twilight"-Schmonzetten auf die Nerven gehen, weil sie nun mal keine 14 mehr sind. "Girls", eine Serie über sehr junge Frauen, versorgt Größe-34-Overperformerinnen mit Material für den Klatsch nach dem Bikram-Yoga.

Auch bei kleineren Sendern wird immer wieder Großartiges gewagt: AMC glänzt - und kassiert - mit "Breaking Bad", der Höllenfahrt eines biederen Chemielehrers, und "Mad Men", einem Sittenpanorama der 60er. HBO und andere Pay-TV-Sender liefern mit solchen Eigenproduktionen Distinktions-Unterhaltung ohne die anerzogene Anwesenheitspflicht zu festen Sendezeiten, noch zeitgemäßer als die DVD-Sammlung, die das Bücherregal als Hipness-Ausweis und Statussymbol abgelöst hat. Früher musste man den neuen Handke oder Walser gelesen haben, heute kann man in seinem Millieu mit Antworten auf die Frage punkten, wie viel Nietzsche in dem Mafia-Boss Tony Soprano steckt. Dagegen sehen die meisten Serien-Angebote von ARD und ZDF, aber auch vieler Privatsender altbackener aus, als sie ohnehin sind.

Viele Versuche, auf Klasse statt Masse zu setzen, sind gescheitert: Dominik Grafs zehnteiliges Meisterwerk "Im Angesicht des Verbrechens" verstolperte die ARD mit abstrusen Sendezeiten, das ZDF blamierte sich mit dem flotten Aus für "KDD". Klüger war man bei Kabel 1, wo man vor wenigen Monaten konsequent handelte. Jeweils an einem Wochenende wurde eine Staffel von "Game of Thrones" und der Zombie-Comic-Verfilmung "The Walking Dead" serviert - genau die Art mediale Druckbetankung, die Vielseher wollen.

Das Prinzip des süchtig machenden Fortsetzungsromans, mit dem Charles Dickens im viktorianischen England zum Bestseller-Autor wurde, ist nicht tot, es hat im 21. Jahrhundert das Medium gewechselt. Sender wie HBO, AMC oder hierzulande Sky haben ihre Hausaufgaben gemacht und die postmodernen Zeichen dieser Zeit erkannt. Deswegen also sollte man sich in Chefetagen deutscher TV-Sender den Sonntag und Montag im Kalender dick anstreichen. Am besten in blutigem Rot.

"The Newsroom" : Ab 25.6., 13 Uhr, auf Sky Go, ab 26.6. auf Sky Anytime