Beim Hurricane-Festival in Scheeßel geben sich 75.000 Musikverrückte dem größten aller Gefühle hin - zunächst in der Sonne und danach im Regen.

Scheeßel. Das Mädchen mit dem lockigen Haar, das sich einen Schnauzbart über die Lippen gemalt hat, macht sehr deutlich, wo seine Liebe liegt: "Music is my boyfriend" steht auf seinem T-Shirt. Und während es über die Wiese läuft und die Melodien mit dem Staub herüberwehen, zündet es ein Lächeln an, das keinen Zweifel lässt an seinem Bekenntnis.

75 000 Menschen sind am Wochenende zum 16. Hurricane-Festival nach Scheeßel gereist, um ihre ganz individuelle Beziehung zur Musik zu pflegen, zu leben, zu feiern. Manche sind gerade frisch verknallt in jung vermählte Gruppen wie We Are Augustines, andere zelebrieren ihr 30. Hochzeitsjubiläum mit lange verheirateten (und zwischenzeitig getrennten) Bands wie Die Ärzte. Und ebenso wie all die Künstler auf vier Bühnen gern vom größten der Gefühle erzählen, so sind auch auf dem Open Air sämtliche Spielarten von Liebe und Leidenschaft zu beobachten.

Ein Paar steht eng umschlungen da, die Augen geschlossen, und lässt sich von Menschen und Musik umspülen. Im Traum versunken. Ein Typ überschüttet seine Freundin mit einem klebrigen Energydrink, sie scheuert ihm eine. Das macht auch wach. Schöne Affekte, schroffe Akkorde.

+++ Hochzeit auf dem "Hurricane" – Umarmungen beim "Southside" +++

Die Liebe, die Robert Smith von The Cure verschenkt, ist eher die eines Vaters zu seinen Kindern. Zu Beginn seines Konzerts winkt er einmal ganz ruhig in die Runde, seine wie immer schwarz ummantelten Arme bilden dabei einen Halbkreis. Und die jungen und älteren Fans, sie lassen sich gerne einhüllen von seinem Gesang, diesem Echolot der Emotionen, mit dem er von den Grenzgebieten der Zweisamkeit berichtet. Denn von weit draußen lässt sich mitten hineinschauen in das blutende Herz. Und über dessen Tellerrand hinaus. So viel Bühnennebel wird da ausgestoßen, als sollten die tobenden und nagenden Gefühle zugedeckt werden. Aber der Wind weht den Schleier rasch fort, sodass alles wieder roh und romantisch daliegt, im Dunkel der Nacht. Smith, dessen Lippenstift wie eben geküsst aussieht, umarmt sich selbst, wiegt sich hin und her. Eine gesunde Selbstliebe schadet nicht, um eine Bühne zu betreten. Denn warum begeben sich Musiker ins Rampenlicht? Ian Brown erklärt das mit Nachdruck.

"I wanna be adored", ich will bewundert werden, singt der Brite mit seiner Band, den Manchester-Rave-Ikonen The Stone Roses. Einige Fans waren extra angereist, um Brown diesen Wunsch zu erfüllen. Aber alte Liebe rostet eben doch. Zum Beispiel, wenn der Partner keine rechte Lust mehr hat. Wenn etwas schiefläuft und klingt. Arroganz war zwar schon immer ein Markenzeichen des Sängers. Aber das allein reicht eben nicht.

Wesentlich amüsantere Mittel, um Aufmerksamkeit zu erlangen, sind da unter den Festivalbesuchern zu entdecken. So wie die zehn Jungs, die in selbst gebastelten Polizeiuniformen am Campingplatz entlangmarschieren, bis ihnen ihre echten "Kollegen" im Peterwagen entgegenkommen und sogleich für ein Gruppenfoto anhalten. Der Alltag bricht auf. Und mit ihm die Rollen. Annäherung wird möglich im Karneval der Subkulturen, in der Maskerade des Mainstreams. Kerle im Ganzkörperteddykostüm möchten gestreichelt werden. Ein junger Herr lässt sich von vier Frauen in einer offenen Mülltonne umherfahren. Und auf dem grünen Öko-Zeltplatz wird tatsächlich die Liebe zur Natur betont: "Zeig uns deinen Bauchnabel, bitteee!", appelliert eine Reihe von Campern an die Passanten. Großer Jubel bei Erfüllung. Sex, Hugs and Rock 'n' Roll. Die Hormone, sie tanzen beim Open Air immer mit. Vor allem beim kernigen, impulsiven Sound von Bands wie Rise Against, Wolfmother oder Blink-182. Da ist der Gitarrenhals noch Genitalverlängerung. "It's fucking awesome to have fun", skandiert Sänger Mark Hoppus lautstark.

Und was im Anschluss dann daraus wird, aus dem geilen Spaß, das zeigt ein Gast auf einem Schild, das er auf seinem Rücken trägt: "I call you maybe".

Die verbindlichere Variante der Zweisamkeit hingegen propagiert ein Mädchen mit weißem Jacket und Brautbouquet im Haar. Zu seinem Outfit passen die Zeilen, die Thees Uhlmann von der blauen Bühne schallen lässt: "Triff mich an der Kirche, ich habe Lust zu schwör'n." Dabei klopft er sich auf die Brust. Das Pathos verdichtet, der Himmel weit offen. Es regnet Sterne und Konfetti. Die Liebe des Moments.

Das entschädigt für den Besuch beim Jahrmarkt der Uneitelkeiten.

Denn man muss die Musik schon sehr lieben, wenn einen morgens, wie am Sonntag, der Regen weckt. Wenn alles nur noch nass ist und alle trotzdem nur noch springen, wie beim Konzert der Rap-Rocker von Kraftklub. Reime, Regen, Rausch. Zwischendrin an diesem Wochenende, im diffusen Licht unter einer Wolkendecke, kann der Mensch aber auch einfach mal auf dem stoppelkurzen Gras sitzen und die Gedanken auf die Suche schicken. Zu den Folkklängen des Kollektivs Other Lives aus Oklahoma funktioniert das besonders gut, denn zu Gitarren und Streichern senden sie Verse über Empfindungen, Zweifel und Schmerz aufs Feld. Ein Mann mit Schirmmütze umarmt unterdessen eine aufblasbare Gummigiraffe. Eine kleine Ersatzliebe.

Liebe ist aber auch, wenn ein Kerl seinem Freund beim Zuhören in der Menge mal kurz von hinten sachte an den Ohren zieht. Eine Geste, die sagt: Hey, hier bin ich, wir sind hier, alles klar. Den Kumpelsoundtrack schlechthin lieferte einst die britische Band Oasis. Und dessen Mastermind Noel Gallagher spielt mit seinen Highflying Birds eine der wohl besten Shows des diesjährigen Hurricane-Festivals. "Can't fight the feeling", erklärt der Pilzkopf übers Mikro. Und nein, dieses Gefühl lässt sich tatsächlich nicht bekämpfen. Denn seine Stimme und die Gitarren und der ganze elegische Rocksound tönen so satt und gut, dass einem die Seele überläuft. Als Gallagher dann den schönen alten Hit bringt, der zugleich einer der besten Ratschläge in Liebesdingen ist, da hilft nur noch, lauthals mitzusingen: "Don't look back in anger." Die Liebe, sie muss manchmal einfach raus.

Die Hurricane-Tage in liebevollen Blog-Einträgen: http://festival-blog.abendblatt.de/