...und Männer auch nicht. Das behauptet jedenfalls die Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine in ihrem Buch “Die Geschlechterlüge“.

Auch wenn wohl kaum jemand Klischees wie "Frauen können nicht einparken und Männer nicht zuhören" ernst nimmt, so glaubt doch die Mehrzahl der Menschen daran, dass Männer und Frauen unterschiedliche Gehirne haben, aus deren Struktur sich unterschiedliche Begabungen und Verhaltensweisen ableiten. Eine Kollegin, die telefoniert, auf dem Computer schreibt und gleichzeitig einem Kollegen bedeutet, er solle ihr auch einen Kaffee eingießen, begründet ihr Verhalten mit dem Argument: "Das geht schon. Ich bin ja eine Frau und kann Multitasking." Und der Mann, der vom Spieleabend nach Hause kommt und nicht gemerkt hat, dass eines der Freundespaare kurz vor der Trennung steht, antwortet trotzig: "Ich wollte spielen, nicht quatschen."

Ja, wir machen es uns in der Stereotypenrolle bequem. Wir schlüpfen gerne, je nach Situation, in die Rolle, die von uns erwartet wird und in der wir dem geringstmöglichen Widerstand begegnen. Wir sind alle davon überzeugt und kennen genug Beweise, dass Frauen und Männer unterschiedlich ticken dass Jungs fasziniert von Ballspielen sind, Mädchen dagegen von Rollenspielen. Das soll nicht angeboren sein? "Die Wirtschaftskrise ist eine Krise der Männer" heißt es und unterstellt Männern damit unersättlich, maßlos, zerstörerisch und rücksichtslos zu sein. Und dass keine Frau im Vorstand der mächtigsten Unternehmen sitzt, wird damit erklärt, dass dort "leistungsorientierte Aggressivität und Durchsetzungsvermögen" gefragt seien, etwas, über das Frauen "natürlich" nicht verfügen. Draufgängertum wird mit "typisch männlich" konnotiert. Wenn man Dutzende Eigenschaften und Verhaltensweisen aufzählt, sie nach männlich und weiblich unterteilen würde, so wüssten wir meist schnell, was scheinbar (also nicht in Wirklichkeit) "typisch männlich" und "typisch weiblich" ist. Weil es einfach verführerisch ist, daran zu glauben, dies sei von der Natur so bestimmt. Und weil sie die immer noch herrschenden Geschlechterungleichheiten in Gesellschaft, Ehe, Beruf, Bildung und Politik erklären und entschuldigen. Wir können ja praktisch nichts für diese Dinge, wenn sie biologisch so festgelegt sind.

+++ Stress macht Männer sozialer - und Frauen freundlicher +++

Die australische Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine hat nun ein Buch geschrieben "Die Geschlechterlüge - Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann", in dem sie Dutzende von wissenschaftlichen Untersuchungen und medizinischen Arbeiten, die erklären wollen, dass weibliche und männliche Gehirne unterschiedlich verdrahtet sind, der konsequenten Fehlerhaftigkeit überführt.

Tests, die beweisen sollten, dass Frauen und Männer verschiedene Fähigkeiten haben, gab es seit mehr als 100 Jahren. Immer sollten unterschiedliche Rechte und Pflichten von Mann und Frau, die getrennten Tätigkeitssphären wissenschaftlich begründet erscheinen. Im 19. Jahrhundert wurden Studien missbraucht, um zu beweisen, dass "Energie fressende" Eierstöcke Frauen am Denken hinderten. Heute soll der schwankende Testosteronspiegel der Männer Schuld am Einbruch der Weltfinanzen sein. Alles Unsinn, schreibt Fine witzig in Kapiteln, die etwa überschrieben sind: "Warum Sie sich eine Papiertüte über den Kopf stülpen sollten, wenn Sie ein Geheimnis haben, von dem Ihre Frau nichts wissen soll".

Fakt ist, und das wird auf knapp 500 Seiten akribisch, erhellend und mit fesselnden Beispielen aus Biologie, Anatomie und Neuropsychologie belegt, dass es keine Beweise gibt, dass Männer und Frauen - außerhalb ihrer geschlechtlichen Ausstattung - andersartig sind. Der große Unterschied - es gibt ihn nicht. Weder verfügen Frauen über einen dickeren Balken im Hirn, der die Hälften besser miteinander kommunizieren lässt und den Frauen zu stärkeren Gefühlen, mehr Empathie, zu Multitasking oder einem besseren Sprachvermögen verhelfen würde. Noch gibt es anatomische Ursachen für die Annahme, Männer könnten besser abstrakt denken und rechnen. Mehr Muskelmasse haben sie definitiv und stärker sind sie auch. Da sich das moderne Arbeitsleben aber weitgehend im Büro, vor dem Computer abspielt, da kaum noch jemand Steine schleppen oder einen Karren aus dem Dreck ziehen muss, spielt Kraft bei der Berufswahl keine entscheidende Rolle mehr. Es gibt schüchterne Mädchen und schüchterne Jungs, freche Mädchen und freche Jungs. Die Bandbreite an charakterlichen Merkmalen innerhalb eines Geschlechts ist größer als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und doch wissen wir, dass "alle" Jungs gerne Ball spielen, dass "alle" Mädchen gern zusammensitzen und quatschen. Woher kommt das und warum gibt es so viele Unterschiede im Verhalten der Geschlechter?

+++ Die sexuelle Revolution der Vormensch-Frauen +++

Selbst in den egalitären Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ist das Leben von Frauen und Männern noch unterschiedlich. Fest steht: Gene und Hormone gestalten die Geschlechtsorgane, Hormone verschalten das Gehirn. So verhelfen die Geschlechtshormone, das Denken und Verhalten zu modulieren, und die Biologie bestimmt über den Menschen. Fest steht aber auch: Von entscheidender Bedeutung im menschlichen Tun und Erleben ist die Kultur. Sie bestimmt, was wir als "weiblich" und "männlich" definieren. Frauen wählen also etwa ihre sozialen Rollen, ihre Berufe nicht unbedingt nach Neigung aus, sondern weil sie in der gesellschaftlichen Betrachtung in bestimmte Berufe am besten zu passen scheinen. Die allgegenwärtigen kulturellen Überzeugungen, zu welcher Gruppe und Kohorte man gehört, in welchen Kontext man passt, ist uns vielleicht nicht immer bewusst, sie wirkt sich aber unbewusst aufs Wünschen und Wollen aus und bestimmt unser Dasein oft deutlicher, als wir glauben. In einer Studie, die 124 Unterschiede, Talente, Gelüste und Schwächen untersuchte, glichen sich die Geschlechter in 80 Prozent sehr, auch im Sprachvermögen. Woher kommen Klischees von der Quatschtante und dem verschwiegenen Wolf?

Viele Eltern von Kleinkindern gelangen spätestens mit der Beobachtung ihres eigenen Nachwuchses zu der Erkenntnis, dass Biologie offenbar doch eine Rolle spielt. Ihre Kinder verhalten sich nicht geschlechtsneutral, spielen lieber mit "typischem" Mädchen- oder Jungenspielzeug. Ist vielleicht das Testosteron, das während der Schwangerschaft im Mutterleib gebildet wird - vermehrt bei männlichen Embryonen -, schuld an der spezifischen Interessenausbildung der Kinder? Und wenn das männliche Hirn schon anders geprägt ist, hat es dann nicht auch Auswirkungen auf unser Denken?

Erziehung und Umwelt haben mehr Einfluss auf die Geschlechtsidentität als die Biologie. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Veränderlichkeit unseres Gehirns - man kann es sich als eine Art Knetmasse vorstellen - die größte evolutionäre Strategie des Menschen war. Erwartungen, die Erzieher und Eltern an ein Kind stellen, Anlagen, die sie fördern, Anlagen die verkümmern, weil sie nicht abgerufen werden - sie spielen eine ausschlaggebende Rolle im kindlichen menschlichen Verhalten. Die kulturelle Prägung entscheidet vor allem darüber, ob Mädchen und Jungs rechnen, raufen oder reden wollen. In Armenien beispielsweise liegt der Anteil an Informatik-Studentinnen bei 50 Prozent. In den USA bei 15. Das erklärt sich nicht mit anatomischen Unterschieden sondern damit, dass in Entwicklungsländern Frauen einen Beruf anstreben, der ihnen ein gutes Auskommen sichert. Die als weiblich geltenden Sozial- und Geisteswissenschaften können sie sich schlicht nicht leisten.

Die Autorin führt zahllose wissenschaftliche Untersuchungen an, die beweisen, wie sehr wir uns den allgemein gültigen kulturellen Überzeugungen anzupassen versuchen. Dazuzugehören ist wichtiger, als uns das bewusst ist, weiß Fine. Stereotype wirken sich lähmend auf die Leistung aus. Tests kann man beispielsweise allein dadurch verändern, indem man bestimmte Geschlechter-Klischees vorgibt. Man manipuliert den sozialen Kontext, er beeinflusst dann das Denken der Probanden. Wenn Männer zu einer Empathiestudie eingeladen werden, schneiden sie schlechter ab als Frauen. Legt man ihnen jedoch exakt denselben Test vor und sagt, es handele sich um eine Studie über Informationsverarbeitung, sind sie genauso gut. Es reicht auch, ihnen für jede erfolgreiche Antwort zwei Dollar zu versprechen oder vorher zu behaupten, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Frauen einfühlsame Männer sexy finden. Die Arbeit muss sich lohnen oder mit einem positiven Selbstbild vereinbar sein. So einfach ist das.

Tatsache ist, dass man Denken und Verhalten, seine Leistung und Lebensführung darauf anzupassen versucht, was von einem erwartet wird. Fine nennt viele Beispiele, Situationen am Arbeitsplatz und in der Familie, im Freundeskreis und unter Stress: Immer kommt heraus, dass wir "passen" wollen, dazugehören, nicht anders sein. Auch das ist ein Grund, warum Frauen sich selten in "männliche" Arbeitswelten eingliedern wollen.

Fine erkennt: "Erfolg ist eine Frage der Strategie und des Trainings." Kinder, die länger und häufiger im Freien spielen, können sich draußen besser orientieren. Mit angeboren hat das nichts zu tun. Was Kinder entwickeln und trainieren, hat maßgeblich mit den Erwartungen zu tun, die Eltern und Erzieher an sie stellen. Hier kommt die Kultur ins Spiel. Sie definiert, was in einer Gesellschaft für Frauen üblich sein soll und was für Männer. Menschen sind keine willenlosen Hormonmaschinen. Sie sind in erster Linie kulturell geprägt.

Mächtige gesellschaftliche Normen schreiben nach wie vor Haus und Kinder vorrangig dem Verantwortungsbereich der Frau zu. Bei den Diskussionen um Hausarbeit und Kindergärten geht es eigentlich um Quote und Lohngerechtigkeit und nicht um Biologie. Es geht darum, ob es neue kulturelle Muster jenseits der alten Klischees gibt. Wie man davon wegkommt, dass Frauen und Männer gleich sein sollen, ohne dass Frauen breitbeinig dasitzen müssen und Männer "Du, ich versteh dich" hauchen. Es geht um neue Ideen für Männlichkeit und Weiblichkeit. Ohne den Vorwurf, "das dürfen nur Männer" oder "das können Frauen besser". Fangen wir doch jetzt mit neuen Ideen an.

Cordelia Fine, "Die Geschlechterlüge", Verlag Klett-Cotta, 475 S., 21,95 Euro