Sherwood Andersons Klassiker von 1919, “Winesburg, Ohio“, haben gleich zwei Hamburger neu übersetzt: Mirko Bonné und Eike Schönfeld.

In Sherwood Andersons aus 25 Erzählungen bestehendem Roman "Winesburg, Ohio" gibt es einige Figuren, die man so schnell nicht vergisst. Enoch Robinson zum Beispiel, den verdrucksten Künstler, dessen Leben hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt und der sich in Wunschwelten hineinfantasiert, in denen er souverän ein Mensch unter anderen ist - in denen er mehr scheint, als er ist. Einst hatte er versucht, bürgerlich zu leben, mit Frau und Kindern. Enoch lenkte sein Leben in eine Richtung und war stolz darauf.

Welchen Sinn wir unserem Leben geben, darum geht es in Andersons Buch, das 1919 erschien und seitdem Generationen von englischsprachigen Schriftstellern beeinflusste. Ernest Hemingway gäbe es nicht ohne Anderson, und allein damit hat der Dichter aus dem Südwesten des US-Bundesstaates Ohio seinen Platz in der Literaturgeschichte sicher. In diesem Frühjahr gibt es gleich zwei Neu-Übersetzungen von "Winesburg, Ohio", beide von in Hamburg lebenden Übersetzern: Für den Schöffling-Verlag hat Mirko Bonné (der auch selbst Schriftsteller ist) das Epoche machende Stück übersetzt, für den Manesse-Verlag Eike Schönfeld.

Damit haben sie beide ein gutes Werk getan, das diesem schönen Buch neue Leser erschließt. Die tauchen nun tief ein in den Kosmos des kleinstädtischen US-amerikanischen Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts, das aber viel mehr ist als eine historische Momentaufnahme, sondern vom Allgemeinen berichtet: vom grundsätzlichen Unerfülltsein der menschlichen Existenz.

Und wo sollte die am unbarmherzigsten in jede Ritze der Häuser und jede Pore der Körper fließen als in einer kleinen Stadt? 1800 Einwohner zählt der erfundene Ort Winesburg. Heute leben in manchen Dörfern mehr Leute. Das aufregendste Ereignis in Winesburg ist die Ankunft des Zuges. Auf den Straßen fahren Kutschen, aber natürlich weiß man von der segensreichen Erfindung des Autos.

Man weiß auch, dass es eine Welt da draußen gibt. Enoch Robinson zum Beispiel lebt zehn Jahre und mehr in New York City, nur um dann als seltsamer Kauz nach Winesburg zurückzukehren.

Von seinem vermurksten Leben berichtet er dem jungen George Willard. Der ist der einzige Reporter des "Winesburg Eagle" und immer auf der Jagd nach Geschichten. Was er dabei aber zu hören bekommt, sind immer nur die stellenweise bizarr anmutenden Erzählungen der Winesburger. Die eine wartet, sie befindet sich in ihren besten Jahren, auf den geliebten Mann, der doch nicht zurückkommen wird. Ein anderer lebt am Rande der Stadt und der Gesellschaft, pflückt und verkauft Beeren und hat eine seltsame Manie. Er ist immer darum bemüht, seine Hände zu verstecken. Eine dritte verbringt ihre Nächte rauchend und lesend auf dem Bett. Der vierte beobachtet sie dabei von seinem Kirchturm aus, fühlt sich dabei als Sünder: Denn einmal ist die Frau nackt.

Als "Winesburg, Ohio" kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschien, gab es unter anderem deswegen im puritanischen Amerika einen Skandal. Anderson wurde außerdem vorgeworfen, die Werte zu unterminieren. Schließlich ist fast allen seinen verschrobenen Figuren gemeinsam, dass sie keine Heilsversprechen vom Leben mehr erwarten.

Andersons Stil ist schlicht; manchmal gaukelt dies eine Einfachheit vor, die seine Erzählungen aber gerade nicht charakterisiert. Die Lebensläufe der Menschen sind wie eingeschlossen in ein Verlies; gemeinsam und nebeneinander her lebend sind sie Einsiedler. Epische Sätze wie "Die Dunkelheit kam, und am Bahnhof kam der Abendzug an" tragen die ganze Welt dieses kleinen Fleckens Erde in sich.

Es wäre allerdings ein Fehler, beschränkte man die Wahrheit hinter den Dingen, die in den Porträts zur Sprache kommen, auf das Soziotop Kleinstadt: Das Ringen der Menschen um die Freude und die Schönheit, die das Leben nicht freiwillig hergibt, ist universell. Und zeitlos. Deshalb gilt "Winesburg, Ohio" als Klassiker. Die psychologische Raffinesse Andersons, in einer sprachlich entschlackten, geradezu lyrischen Verdichtung der Motive und Beschreibungen jede Menge Deutungsraum zu lassen, tritt in jedem der 25 Teile zu Tage. Oft schmecken die Realitätshappen bittersüß, wenn sie sich vor den Figuren als Konflikt von existenzieller Wucht ausbreiten. Am hinreißendsten ist die Figur des Arbeiters Ray Pearson: Sechs Kinder hat er, eine grantige Frau und einen harten Job. Der jüngere Arbeiter fragt ihn, ob er die schwangere Geliebte heiraten soll. Was soll er ihm raten? Das moralisch Richtige? Oder soll er ihm den Weg in ein anderes Leben als seines weisen?

Zunächst gibt Ray Pearson ihm keine Antwort, und dann stürmt er ihm nach, dem Jungen, der alles noch vor sich hat, vielleicht auch das gelungenere Leben: "Während er so rannte, schrie er ein Aufbegehren gegen sein Leben heraus, gegen alles Leben, gegen alles, was das Leben hässlich macht."

Die Neu-Übersetzungen wirken sprachlich etwas zeitgemäßer als die alte von Hans Erich Nossack, die 1958 erschien. Vor allem aber stellen sie die komplette Übertragung des Buchs dar: Nossack ließ manche Sätze und ganze Teile weg.

Sherwood Anderson: "Winesburg, Ohio". Die von Mirko Bonné übersetzte Ausgabe hat 328 S. und kostet 22,95 Euro, die von Eike Schönfeld hat 304 S., sie kostet 21,95 Euro