Der ehemalige Leiter des Schauspielhauses spricht über die Bühne, Kunst und sein neues Buch: Interview mit einem Intellektuellen alter Schule.

Von 1972 bis 1979 war Ivan Nagel Intendant des Deutschen Schauspielhauses. In dieser Zeit wurde die Bühne Deutschlands renommiertestes Staatstheater. Alle damals herausragenden Regisseure arbeiteten am Schauspielhaus, darunter Rainer Werner Fassbinder, Giorgio Strehler, Jérome Savary, Rudolf Noelte oder Luc Bondy. Peter Zadek inszenierte seinen bis heute legendären "Othello" mit dem schwarz beschmierten Ulrich Wildgruber in der Titelrolle, der seine Frau Desdemona, gespielt von Eva Mattes, ermordet und über die Wäscheleine wirft.

Nun hat Ivan Nagel ein Buch geschrieben ("Gemälde und Drama - Giotto, Masaccio Leonardo", Suhrkamp Verlag, 351 Seiten), in dem er sich mit der Malerei der Frührenaissance auseinandersetzt. Am Sonntag wird er es im Malersaal gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Martin Warnke vorstellen. Wir sprachen mit Ivan Nagel über die Kunst und das Theater.

Hamburger Abendblatt: Ihr Buch ist ein intelligentes, intellektuelles Kunstwerk. Übers Theater zu sprechen wäre leichter.

Ivan Nagel: Ach, darüber weiß ich so wenig. Das ist alles vorbei.

Immerhin erzählt das Buch die Geschichte des Historienbildes ja auch als einen Teil der Theatergeschichte.

Es ist kein Theaterbuch, sondern ein kunstgeschichtliches Buch, genauer gesagt, ein Buch, das sich mit der europäischen Kunstgeschichte zwischen 1300 und 1500 beschäftigt. Damals fing die Malerei plötzlich an, wirkliche Menschen in wirklichen Konflikten zu zeigen. Sie erzählen nichts, sondern sie zeigen dramatische Szenen, in denen reale Menschen zusammenstoßen. Damals hat sich das Bild, das wir vom Menschen haben, völlig verändert. Der reale Mensch betritt die Kunst.

Vor 1300 gab es also nur Abbildungen?

Ja. Stilisierte, vergeistigte, symbolhafte Zeichen, Ikonen, Heiligenbilder. Erst danach gab es reale Personen in einer Auseinandersetzung miteinander. Sie spielten plötzlich Szenen miteinander. Damit wird das Bild zum Drama. Das reale Theater war damals weit dahinter zurück. Die einzige mögliche Bühne für eine Szene war das Historienbild. Die viereckige Bühne mit der perspektivischen Verengung haben wir bis heute. Danach werden erst die Stücke erfunden, die dort gespielt werden und die Menschen voller Lebendigkeit und Wahrheit zeigen.

Wie schön, dass wir nun doch beim Theater gelandet sind. Die Bühne, die wir heute im Theater kennen, gab es also vor dieser Malerei nicht?

Nein. Die Zentralperspektive mit der zeremoniellen, heroischen, großen Bühne ist konstruiert für das Historiengemälde, wurde also von der Malerei erfunden.

Was hat sich für Sie in den letzten Jahrzehnten im Theater verändert?

Mir fehlt das Vertrauen in die Größe von Dramen. Die Varianten, die ich heute sehe, meist mit großem Videoeinsatz, finde ich so viel flacher und ärmer als das, was man ernsthaft in den Stücken finden könnte, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzen würde.

Woran liegt das? An der mangelnden Kraft der Regisseure? Gute Schauspieler haben wir ja genug.

Ich weiß nicht, woran das liegt. Auch die begabteren Regisseure sind seit Längerem übertrieben sensibel, schwanken. Manche wissen gar nicht, was man von Schauspielern fordern und mit ihnen erreichen kann. Manche glauben, der Mensch sei so tief in den Boden getaucht wie ein Grashalm, zwei Millimeter unter dem Boden und drei Zentimeter aus dem Boden. Dabei ist es umgekehrt. Es gibt leider zu wenig Regisseure, die glaubhafte Menschen und deren Konflikte, das, was sie voneinander wollen, was sie voneinander nicht bekommen, wie sei einander reinlegen, zeigen wollen. Stattdessen sieht man 15 Projektoren mit Nahaufnahmen auf der Bühne. In den Gesichtern passiert nichts. Und auf der Bühne auch nicht. Mich quält es, dass ausländische Gastspiele, von Alain Platel oder Robert Lepage etwa, so viel Größeres zeigen als jüngere deutsche Regisseure. Die nehmen ihre Möglichkeiten nicht ernst.

Hat sich das Theater verflacht?

Ja.

Worauf freuen Sie sich, wenn Sie ins Theater gehen?

Ich gehe kaum ins Theater.

Aber woher beziehen Sie dann Ihre Informationen übers Theater?

Ich gucke mir natürlich Aufführungen an, die mir Freunde empfehlen. Und Inszenierungen von Regisseuren, die ich schätze. Ich fand die beiden letzten Inszenierungen, die Jürgen Gosch vor seinem Tode gemacht hat, großartig. Ich schätze die Regisseure Jossi Wieler und Luk Perceval, der jetzt am Thalia Oberspielleiter ist. Sein "Kleiner Mann, was nun?" war wunderbar, aber es gibt auch schwächere Arbeiten von ihm.

Woran denken Sie, wenn Sie an Ihre Zeit im Schauspielhaus denken? Ist es Zadeks "Othello"? Savarys gigantischer Erfolg mit "Perichole"? Sind es die ewigen Auseinandersetzungen, die Sie mit dem Senat wegen des Etats führen mussten?

Nein. Ich denke daran, dass ich damals 40 Jahre alt war. Ich war überzeugt davon, dass es auf der ganzen Welt nur eine Sache gibt, für die es sich lohnt zu leben und zu arbeiten: das Theater. Ich bin jetzt 79 Jahre alt. Das ist zu lang, um sich immer nur mit einer Sache zu beschäftigen. An meinem Buch "Gemälde und Drama" hab ich wirklich unsäglich viel gearbeitet. Acht Jahre. Es ist mein erstes dickes Buch. In dem Alter!

Andererseits möchte man seine große Liebe auch nie loslassen. Oder ist das Theater gar nicht Ihre große Liebe?

Ich möchte nicht aufhören zu lernen. Am Ende meiner Intendantenzeit hat mich gestört, dass ich so tat, als könnte ich anderen Leuten jeden Tag etwas beibringen. Und hab mich gefragt, was ich selbst gelernt habe. Ich musste einfach mal wechseln und bin nach New York gegangen. Ich hab inzwischen ein wirklich blödes Gefühl, wenn ich an einem Tag nichts dazugelernt habe.

Aber auch beim Theater lernt man doch nie aus.

Ja, es gibt diese Momente. Ab und zu sehe ich eine tolle Inszenierung. Dann denke ich, was für eine edle Kunst. Andererseits sind viele mäßige Aufführungen dabei. Ich bleibe jetzt lieber zu Hause und schreibe an meinem neuen Buch.

Was ist es denn?

Ich schreibe über Shakespeares "Kaufmann von Venedig".

Sie sind ein fleißiger Schreiber geworden.

An "Gemälde und Drama" hab ich mir den Rücken kaputt geschrieben. Jetzt kann ich mir am "Kaufmann" vielleicht noch etwas anderes kaputt schreiben.