Philipp Himmelmanns Inszenierung von “Manon Lescaut“ an der Hamburgischen Staatsoper läuft wegen eines Systemfehlers auf Grund.

Hamburg. Beim schöpferischen Ringen eines Opernregisseurs um die richtige, ihm gemäße Lesart eines Werks hat die Oper zwei unverbrüchliche Verbündete: die Partitur und das Libretto. Nur die kühnsten Repräsentanten des Regietheaters wagen auch auf der Opernbühne, was im Sprechtheater gang und gäbe ist: Striche, Montagen, Hinzufügungen. Selbst bei einer radikalen Neudeutung einer Oper bleiben Noten und Gesangstexte fast immer unangetastet. Die grundsätzliche Herausforderung für den notorisch einfallsreichen Opernregisseur besteht deshalb darin, sein Konzept vom Stück mit dem Fluss der Musik in Einklang zu bringen, damit dieser seine Idee nicht gleich in den Orkus spült. So vermeintlich zeitgenössisch und gegen den Strich auch immer jemand eine Oper inszenieren mag - plausibel erscheint seine Regie nur so lange, wie sie das Tao der Musik beachtet und respektiert, was gesungen wird.

+++ Männerfantasien über Manon +++

Insofern ist dem in Regiedingen überaus erfahrenen Philipp Himmelmann mit Puccinis Oper "Manon Lescaut" bei seinem Debüt an der Hamburgischen Staatsoper ein Systemfehler unterlaufen, der sich im Lauf der Aufführung immer unbarmherziger rächt und der ihm am Ende ein fast einhelliges Buhkonzert eintrug. In seinem Bestreben, in die von gleich acht beteiligten Librettisten zugegeben undankbar sprunghaft erzählte Geschichte eine eigene Deutung zu bringen, macht er den mittellosen Studenten Renato Des Grieux zum (gemütskranken) Kraftzentrum der Oper. Himmelmanns These: Des Grieux fantasiert sich die Liebe der Manon, ihren wiederholten Verrat und das gesamte übrige Personal möglicherweise nur zusammen. Manon, ihren Bruder Lescaut und den vermögenden Rivalen Geronte soll der Zuschauer sich deshalb nur als Ausgeburten eines Liebes-Traumas denken.

Von Anfang bis Ende bleibt dieser Des Grieux, ein Mannsbild des Jammers, auf der Bühne. Er steht oder kniet oder liegt an der Rampe und darf, weil das Ganze nur in seinem ramponierten Oberstübchen spielt, die anderen Akteure weder anschauen noch anfassen. Weder lebt noch betrachtet er die eigene Projektion. Also muss Carlo Ventre in seiner Rolle unentwegt ins Publikum gucken, die Hände wringen, die Dackelaugenbrauen auf halbmast hängen und ohne Unterlass barmen. Das hält der stärkste Schauspieler nicht aus, zu denen Ventre nicht zu rechnen ist. Da sein Tenor in den ersten beiden Akten zudem unschön hölzern und geschrien über die Rampe kam, versöhnte noch nicht einmal der Klang süßer Erinnerung die Augen.

Obwohl die Philharmoniker bei der Premiere anstelle eines seelenschmerz- und liebestrunkenen Orchestersatzes die musikalischen Leidenschaften ziemlich nüchtern ausspielten (Carlo Montanaro führte ohne besonderen Esprit durch die Partitur), spiegelt die Musik doch unüberhörbar die Gefühlswelten und -wallungen der Protagonisten. Da bebt und wogt es tapfer aus dem Graben, aber auf der Bühne bleibt alles seltsam indirekt, teilnahmslos, wie durch eine Glaswand. Da besingt Manon unmissverständlich die kardinalen Unterschiede zwischen Des Grieux und ihrem Sugardaddy Geronte - der eine küsste so toll und war wohl auch sonst erotisch leistungsfähig, nur leider mittellos, der andere, für den sie ihn verlassen hat, ist lendenlahm, dafür aber finanziell hoch potent. Diesen ihn vielleicht langweilenden, aber nicht gar so weltfernen Konflikt - "arm, aber sexy" gegen "reich, aber impotent" - eskamotiert Himmelmann im zweiten Akt aus der Geschichte hinaus. In der Schäferszene halluziniert Des Grieux den Nebenbuhler Geronte als Anführer einer bockbeinigen, geilen Posse aus Jasagern und Nutznießern in Gestalt eines Satyrs mit imposant aufgepflanztem Gemächt, von dem ein blinkendes Geschmeide fürs Material Girl Manon baumelt. Das obszöne Schäferspiel ist zwar hübsch abgründig inszeniert, wird aber von den Gesangstexten ad absurdum geführt. Und als sich Manon und Des Grieux die Chance zur Flucht aus Gerontes Palast bietet, die Musik drängt und mahnt zum Aufbruch, da stakst das unverbundene Paar so sediert umher wie jemand im Traum, der eilen will und doch nicht vom Fleck kommt.

Johannes Leiacker hat dem armen Des Grieux ein himmelhohes Fantasieverlies als Einheitsbühnenbild gebaut. Dessen drehbare, viele Meter hohe Wandelemente sind auf einer Seite von oben bis unten mit Konterfeis von Leuten tapeziert, in denen man manche der fantastisch vielfältig in Schwarz-Weiß kostümierten (Gesine Völlm) Chorsänger und Nebendarsteller wiederzuerkennen meint. Auf der Rückseite sind sie halb blinde Spiegel. Wer nicht in den ersten Reihen sitzt, für den wirkt das changierende Schwarz-Weiß von Fototapete und Kostümen allerdings schnell wie Augenpulver. Einsamer, samtroter Farbtupfer ist Norma Fantinis Manon, die erst im letzten Akt auch stimmlich ans Herz ging. Tigran Martirossian als Geronte, stets finster blickend, ließ mit seinem langen, weißen Haar an einen ins Dämonische gewendeten Saruman aus "Der Herr der Ringe" denken. Er sang kraftvoll und rund, ein reizvoller Gegenspieler zum schön singenden und reizend hallodrihaft auftretenden Lescaut (Lauri Vasar).

Himmelmanns Versuchsanordnung mag intelligent gedacht sein. Doch im Wettlauf gegen Text und Musik, den Igel in jeder Oper, ergeht es ihr wie dem Hasen. Sie hat keine Chance.