Heute Abend dirigiert Andris Nelsons in der Laeiszhalle in Hamburg. Um den Letten dreht sich zurzeit die halbe Musikwelt. Er gild als Shootingstar.

Hamburg. Dieser Mann ist ein Raubtier am Pult. Wenn er sich über die Partitur hermacht, werden die runden Schultern unter dem zeltartigen schwarzen Hemd, das er statt eines Fracks trägt, noch runder. Im nächsten Moment schießen die langen Arme heraus und scheinen sich zu vervielfachen wie die einer indischen Gottheit. Jedes Detail seines gestischen Feuerwerks verwandelt sich im Orchester fast greifbar in Volt, in Sog, in atemberaubende Crescendi oder ebenso atemberaubendes Flüstern, all diese Erregungszustände spiegeln sich auf seinem Gesicht. Manchmal greift er während des Dirigierens mit der Linken nach dem Geländer hinter ihm, als erschräke er selbst vor der Intensität, die er entfacht.

Abseits der Bühne dagegen hat Andris Nelsons so gar nichts Wildes an sich. Ein wenig bleich sitzt er an einem Sonntagnachmittag, wenige Stunden nach einem Konzert mit dem NDR Sinfonieorchester, im Konferenzraum eines Hamburger Hotels. Die derbe chromfarbene Gliederkette um seinen Hals passt nicht recht zu den weichen Gesichtszügen. Nelsons sieht jünger aus als seine 33 Jahre, doch die hellblauen Augen wirken müde. Die gefalteten Hände fahren in kleinen, nervösen Bewegungen über die Mahagoniplatte. "Musik ist Nahrung für die Seele", brummt er in seinem skandinavisch klingenden Englisch mit dem rollenden "R". Nelsons spricht tastend, zögernd, fast gehemmt; über Musik zu reden liegt ihm sichtlich ferner, als sie einfach zu machen. Oft schiebt er seinen Sätzen ein bekräftigendes "jo" nach und verstummt dann, als verfiele er in Nachdenken. Im Gespräch ist er alles andere als ein Charismatiker, der höchstgehandelte Dirigent seiner Generation.

+++ Heiteres Komponistenraten mit Andris Nelsons +++

+++ Der Dirigent, der aus der Kälte kam +++

Alle wollen Andris. "Der Typ explodiert einfach vor Musik", auf diese Formel bringt Andreas Kuntze das Phänomen. Er hat Nelsons 2005 als Chef der Nordwestdeutschen Philharmonie unter Vertrag genommen, als den jungen Letten in Westeuropa noch keiner kannte. Dass Nelsons nicht lange bei dem kleinen Orchester im westfälischen Herford bleiben würde, war Kuntze gleich klar - "aber dass es so schnell gehen würde mit der internationalen Karriere, das war dann doch überraschend". 2008 wurde Nelsons Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra. Heute Abend kommen die Künstler in die Laeiszhalle und spielen Werke von Britten und Sibelius sowie Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 mit der in Hamburg lebenden, weltweit gefragten Russin Anna Vinnitskaya.

Das Buhlen geht unterdessen weiter. Unter den vielen Verehrern der letzten Jahre war auch das NDR Sinfonieorchester. Als Nelsons jüngst bei den Münchner Philharmonikern debütierte, derzeit unter der Knute des "Krokodils" Lorin Maazel, war sogleich von Brautschau die Rede. Und für die Nachfolge seines Landsmanns und Mentors Mariss Janssons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gilt Nelsons ohnehin als heißer Kandidat.

Andere würden sich in diesen ehrenvollen Avancen ausgiebig sonnen. Nelsons dagegen wirkt, als bezöge er den ganzen Rummel überhaupt nicht auf seine Person. "Ich liebe das Orchester in Birmingham. Ich möchte ja auch noch Oper machen, und ich habe Gastdirigate. Das ist alles ziemlich aufregend." Fast verlegen nuschelt er etwas, das "Berliner Philharmoniker, Concertgebouw-Orchester Amsterdam, Wiener Philharmoniker" heißen könnte.

"Aufregend", dieses Wort verwendet Nelsons ziemlich oft, wenn es um Musik geht. Ob München, New York oder Herford, sein Anspruch ist stets derselbe: "Wir müssen die Musik emotional wahrhaftig und mit aller Kraft der Fantasie zum Leben erwecken", umschreibt er sein künstlerisches Credo. "Ich brauche kein Autograf zu lesen, nur um zu wissen, wie Beethovens Handschrift aussah. Aber aufregend wird es, wenn man der Partitur ansieht, wo er sich gequält hat und wo die Noten nur so über das Papier fliegen, weil er mit dem Schreiben kaum nachkam." Obgleich Nelsons sich nicht zu den besessenen Quellenforschern zählt, beschäftigt er sich auch mit den Hintergründen eines Stücks: "Je mehr man weiß, desto reicher ist die Intuition."

Womöglich ist diese Mischung aus Hingabe und präziser Arbeit sein Erfolgsgeheimnis. Die Qualität des Kontakts mit einem Orchester entscheidet sich häufig in den allerersten Sekunden des Zusammentreffens. Nelsons weiß das, schließlich kennt er auch die andere Seite: Er war selbst Trompeter im Orchester der Lettischen Nationaloper in Riga, bevor er mit zarten 24 Jahren Chefdirigent des Hauses wurde. "Als Dirigent kommuniziert man mit Augen, Armen und Beinen. Nur so kann man die Musik ausdrücken und die Musiker überzeugen", sagt er. "Das ist das Schwierigste für einen Dirigenten: die Chemie des Miteinanders herzustellen. Deshalb bin ich vor Proben fast nervöser als vor Konzerten."

Welch hohe Empfindsamkeit sich hinter Nelsons' freundlicher Brummbärenart verbirgt, verrät hin und wieder ein fast unmerkliches Zittern, das durch seine Bassstimme geht. Oder er faltet die Hände noch ein wenig fester auf der Tischplatte. "Ich habe immer Lampenfieber", bekennt er. "Das wird so bleiben." Das Wort "aufregend" hat bei ihm eine mehrfache Bedeutung. Umsonst ist ein Musizieren, das alles riskiert, eben nicht zu haben.

Am Abend wird er, selten genug, heim nach Riga fliegen, zu seiner Frau und seiner wenige Monate alten Tochter. "Dass es sie gibt, ist das Alleraufregendste", sagt er. Er hebt kaum die Stimme dabei. Aber wenn Andris Nelsons etwas aufregender als Musik findet, dann will das etwas heißen.

City of Birmingham Symphony Orchestra, Andris Nelsons heute, 20.00, Laeiszhalle (U Gänsemarkt), Johannes-Brahms-Platz, Karten zu 10,- bis 75,- unter T. 35 76 66 66; www.elbphilharmonie.de