Der Germanist Manfred Geier hat sich mit den großen Aufklärern beschäftigt - und ist damit für den Sachbuchpreis der Buchmesse nominiert

Hamburg. Manfred Geier hat für sein Buch "Aufklärung. Das europäische Projekt" einen überraschenden Weg gewählt. Seine Ideengeschichte ist nicht die systematische Zusammenfassung von philosophischen Hauptwerken, sondern eine Erzählung darüber, wie aus biografischen Zufällen weitreichende Gedanken entstanden sind. Der in Hamburg lebende Autor zeigt in seinen anschaulich geschriebenen Philosophenporträts, wie John Locke, Voltaire, Rousseau, Kant und andere den Anstoß zum Selbstdenken bekamen und begannen, die Menschheit aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. In Geiers Darstellung wird die Aufklärung zu einem Abenteuer des Geistes, das auch den Leser mitreißt. Sein Buch ist als einer von fünf Titeln in der Shortlist für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert, der morgen vergeben wird.

Hamburger Abendblatt: Wie kann der Einzelne heute im Geist der Aufklärung leben? Sind wir nicht alle ein Spielball der großen Ereignisse und unzureichend informiert?

Manfred Geier: Wir können trotzdem über verfügbare Informationen und ihre mediale Darstellung kritisch nachdenken und sie mit anderen diskutieren, bevor wir uns selbst eine Meinung bilden. Unser Urteil sollte vernünftig und gut begründet formuliert sein, damit wir nicht nur nachplappern, was andere vordenken und vorschreiben.

Warum spielen in Ihrer Ideengeschichte der Aufklärung die Biografien von Hauptakteuren wie Locke, Voltaire, Mendelssohn, Kant oder Wilhelm von Humboldt eine so große Rolle?

Geier: Will man Gedanken, Ereignisse und historische Prozesse lebendig darstellen, kann man nicht nur analytisch und systematisch vorgehen, sondern muss Geschichten erzählen und philosophische Gedanken in ihrer historischen Dynamik auch narrativ darstellen. Dadurch werden sie anschaulich und sind eben nicht nur starke, mehr oder weniger gut begründete Behauptungen.

Wie aufschlussreich war dieses eher unübliche Vorgehen für Sie selbst?

Geier: Mir ist bei der Arbeit an dem Buch klar geworden, wie sehr Aufklärung eine historische Konstellation ist. Dessen war ich mir zu Beginn nicht in dem Maße bewusst. Ich bin zwar einem Konzept gefolgt, war jedoch offen genug, mich von neuen Fährten zu neuen Entdeckungen anregen zu lassen. Dabei stellte ich fest, welche vielfältigen Querbezüge es gibt, zwischen den Menschen und den Texten.

Zum Beispiel wo?

Geier: Anfangs habe ich nicht gewusst, welch wegweisende Rolle John Locke für die Aufklärung gespielt hat. Er war der Erzieher des jungen Lord Shaftesbury, die Franzosen Voltaire, Diderot und auch Rousseau beziehen sich auf ihn, auch Moses Mendelssohn. Und Kant hat durch die frühe Lektüre von Lockes "Anleitung zum richtigen Denken" einen wesentlichen Impuls erhalten. So wie Locke selbst einen Anstoß bekommen hatte, als er von einem Förderer um einen Essay über religiöse Toleranz gebeten wurde und sich daraus schon bald eine weitere Untersuchung ergab, in der er die Menschenrechte formulierte. Locke ist ein Initiator, dessen Spur in der Geschichte der Aufklärung immer wieder sichtbar wird, sie gewissermaßen wie ein roter Faden durchzieht und das Gewebe zusammenhält.

Sie beschreiben, wie das Denken der Aufklärer oft erst einen Anstoß von außen brauchte, um eine neue Richtung einzuschlagen. Das konnte die Anregung durch einen Lehrer oder einen Text wie bei Kant und Moses Mendelssohn sein, die Herausforderung durch eine Aufgabe wie bei Locke oder Rousseau, aber auch eine große Demütigung wie bei Voltaire. Brauchen große Gedanken solch eine biografische Initialzündung?

Geier: In der Tat ist mir aufgefallen, dass es bei den Denkern, die ich behandelt habe, einschneidende Schlüsselerlebnisse gab, die etwas in Gang setzten. Und sie alle verbindet, dass sie sich über dogmatische, feststehende Positionen hinweggesetzt haben, indem sie gewissermaßen eigene Schritte abseits der ausgetretenen Wege gewagt haben. Sie wurden zu originellen und originären Denkern und begründeten mit ihren kühnen Gedanken etwas Neues. Sie alle hatten den Mut zum Selbstdenken.

Waren die Aufklärer Europäer?

Geier: Ja, weil sie sich in ihrem Denken nicht national begrenzt haben. Kant zum Beispiel wollte wissen, was in anderen Ländern gedacht worden ist. Also las er englische Texte von Newton, Hume und Locke, von französischen Autoren wie Voltaire und Rousseau, die ihn begeisterten. Obwohl er kaum aus seiner Heimatstadt Königsberg herausgekommen ist, liebte er diese Stadt auch als eine europäische Metropole, deren multikulturelle Vielfalt ihm vieles von dem bot, was ihn interessierte.

Wie gegenwärtig ist die Aufklärung in Europa?

Geier: Was Europa als Wertegemeinschaft zusammenhält, sind die Programmideen der Aufklärung. Gleichzeitig ist sie nichts historisch Abgeschlossenes und auch kein Dogma, sondern ein Prozess ohne Ende - ein Projekt, das immer wieder durch technische, soziale und kulturelle Entwicklungen neu herausgefordert wird. Bei all dem Gerede über Finanzen, Verschuldung und fiskalische Abhängigkeiten vergisst man leicht, dass Europa mehr ist als eine ökonomische Rechnungsgröße.

Warum braucht Europa die Aufklärung?

Geier: Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst stark an der Erweiterung wirtschaftlicher Beziehungen orientiert. Daraus haben sich andere Beziehungen ergeben, und Staaten sind zu einer Wertegemeinschaft zusammenwachsen. Ausdruck dessen ist letztlich die Charta der Grundrechte der EU, die 2009 mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist. Sie überträgt den Geist der Aufklärung in gültiges europäisches Recht. Jeder Staat, der Mitglied der EU werden will, muss sich bedingungslos an dieser Charta orientieren. Wir sollten das in der gegenwärtigen Krise nicht aus den Augen verlieren.

Sehen Sie Politiker, die wie aufgeklärte Menschen handeln und in dieser Hinsicht als Vorbilder taugen?

Geier: Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Christian Wulff hat von Moral getönt, sie sich aber als "politischer Moralist" im Sinne Kants so zurechtgelegt, wie es ihm passte. Joachim Gauck hingegen erscheint nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand als ein "moralischer Politiker" à la Kant, der mit Blick auf das Allgemeininteresse zu handeln versucht. Ich glaube, dass die Menschen ein feines Gespür dafür haben, wer sich verantwortlich für das Ganze engagiert und wer bloß auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Politiker, die als Vorbilder taugen, sind in dieser Hinsicht meiner Meinung nach Hildegard Hamm-Brücher, Richard von Weizsäcker, Gerhard Baum und natürlich Helmut Schmidt, der sein Handeln bewusst in die Tradition der Aufklärung gestellt hat.

Manfred Geier: "Aufklärung. Das europäische Projekt" Rowohlt-Verlag, 415 Seiten, 24,95 Euro