Bestseller verkaufen sich automatisch besser. Doch wie wird ein Buch zum Massenerfolg? Und warum? Eine Suche nach dem Patentrezept.

Hamburg. Spätestens nach der 23. Interviewabsage wurde klar, dass der Versuch, das Geheimnis der "Spiegel"-Bestsellerliste zu ergründen, auch die einflussreicheren Figuren im Literaturbetrieb schlagartig verstummen lässt. Allerdings war es nicht der Zeitmangel (verständlich, so kurz vor der nach Frankfurt zweitwichtigsten deutschen Buchmesse in Leipzig, die am Donnerstag beginnt), der als häufigster Verhinderungsgrund genannt wurde. Stattdessen schien es, als ob nichts die Magie, die den Begriff Bestseller umwabert, gefährden solle. Auch das ist irgendwie einsehbar. Schließlich würde kein Zauberer von Rang seine Tricks verraten und so gegen den Ehrenkodex der Zunft verstoßen.

Die wohl gebräuchlichste Definition stammt von der Schweizer Anglistin Sonja Marjasch, die schon 1946 befand, ein Bestseller sei ein "Massenartikel, der innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, in einem bestimmten Absatzgebiet, im Vergleich zu den übrigen Büchern derselben Gattung (während der gleichen Zeit am gleichen Ort) eine Höchstzahl an verkauften Exemplaren erreicht".

Aber welche Zeitspanne zählt? 100 000 verkaufte Bücher innerhalb eines Tages, einer Woche, eines Monats oder Jahres? Die Zahl 100 000 ist heutzutage die international gebräuchliche, kleinste Maßeinheit für einen Bestseller. Doch wenn Bestseller = Massenartikel = Bücher sind: Was unterscheidet dann Charlotte Roches "Feuchtgebiete" von Nivea-Creme von Beiersdorf?

Nichts. Denn es kommt nur auf die Zahl der Abverkäufe an. Im Supermarkt findet man die beliebtesten Waren stets in Augen- und Griffhöhe. In den großen Buchhandlungen, vor allem in den Filialen der Ketten wie etwa die Deutsche Buch Handels GmbH & Co. KG (mit rund 500 Filialen der größte Händler, ein Zusammenschluss aus Weltbild, Hugendubel und anderer großer Filialunternehmen), Thalia oder Mayersche Buchhandlung, erhalten Bestseller häufig eigene Verkaufstische, die von den Konsumenten einfach nicht übersehen werden können. Es ist aber selbstverständlich nur ein Gerücht, dass Verlage sich diese besondere Aufmerksamkeit mit Barem erkaufen. Das müssen sie, wenn überhaupt, natürlich nicht, wenn das entsprechende Werk sich zum Beispiel auf der "Spiegel"-Bestsellerliste platzieren konnte, die bereits seit 1961 Gradmesser für den Erfolg eines Buches ist. Im 51. Jahr ihres Bestehens ist sie längst nicht mehr nur gut gemeinte Orientierungshilfe, sondern Werbeträger und Verkaufsargument Nr. 1 für ein Buch.

Seit 1971 werden "Spiegel"-Bestseller von der Zeitschrift "buchreport" auf der (unbestechlichen) Basis der tatsächlichen Verkäufe in rund 350 ausgewählten Buchhandlungen erfasst, deren Standorte der "Gesamtheit des Buchhandels in Deutschland entsprechen" ("Spiegel online"). Die Abfrage erfolgt elektronisch, direkt in den Warenwirtschaftssystemen. Wurden anfangs nur Hardcover aufgenommen, getrennt nach Belletristik und Sachbuch, so existieren inzwischen Taschenbuch-Charts, Kinderbuch-Charts, Hörbuch-Charts, E-Book-Charts, Kinofilm-Charts und DVD-Charts. Berücksichtigt werden jedoch nur Publikationen, bei denen es sich um eine "eigenschöpferische Leistung" handelt. Das "Dr. Oetker-Backen macht Freude"-Buch ist daher trotz über 26 Millionen verkaufter Exemplare nicht auf der "Spiegel"-Bestsellerliste zu finden. Der Duden und die Bibel, meistverkauftes Buch aller Zeiten, sowieso nicht. Und "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry als (vermutlich) meistverkauftes belletristisches Werk überhaupt ist bereits zu lange auf dem Markt, wie alle anderen Klassiker.

+++ Hamburger Bestseller +++

Aufgrund der allgemeinen Entwicklung der Medien und des damit einhergehenden Strukturwandels des Buchmarktes, der voll auf Konzentration setzt, besitzt die "Spiegel"-Bestellerliste heute zwar noch unbestritten ihren "Leitcharakter", doch ihren Alleinbewertungsanspruch hat sie zugunsten vieler anderer Listen verloren. Die meisten großen Zeitungen und Zeitschriften, Buchhandlungen und Verlage sowie alle Internetbuchläden kreieren mittlerweile eigene Bestsellerlisten, mal mehr ("Focus"), mal weniger seriös, die zumeist aufwendig in diverse Sach- und Themenbereiche gestückelt werden. Ein Blick auf die aktuellen Belletristik-Bestsellerlisten macht Erfassungsunterschiede deutlich: Beim "Spiegel" steht "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" (Jonassen) an der Spitze, bei Thalia ist es "Der Junge, der Träume schenkte" (Di Fulvio) und bei Amazon "Die Hexenköchin" (Hedrun).

Gerade der Online-Gigant, der seine Kundschaft mit weit über 30 verschiedenen Bestsellerlisten konfrontiert, die stündlich (!) aktualisiert werden, fungiert als Paradebeispiel für den inflationär anmutenden Listenwahnsinn. Die Frage sei erlaubt, ob es sich dabei tatsächlich bloß um die gute Absicht handelt, einen Weg durch den Dschungel der geschätzten jährlichen 120 000 bis 180 000 Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt zu weisen. Vor allem weil die Kriterien für einen Amazon-Bestsellerstatus eher diffus bleiben und wohl auch im Zusammenhang mit den heftig umstrittenen Online-Kritiken stehen, die selbst ein anerkannt miserables Buch wie den erotischen Roman "Schokoladenspalte" immerhin zeitweise pushen konnte.

Doch nicht einmal die "Spiegel"-Bestsellerlisten sind gegen die cleveren Verkaufsstrategien der Verlage gefeit: Da werden plötzlich "Spitzentitel" aus dem Nichts propagiert, weit vor dem Erscheinungstag aggressiv beworben; hoffnungsvolle neue Autoren sollten möglichst skandal- und talkshowtauglich sein. Überhaupt macht schon eine einzige positive Erwähnung in einer Büchersendung (seit Elke Heidenreichs "Lesen!" auch "Elke-Effekt" genannt) den Weg auf die Liste frei.

Für Verlage und ihre Autoren sind alle Bestsellerlisten gut, weil sich Bestseller nun mal automatisch besser verkaufen. Für den Handel sind Bestsellerlisten gut, weil er an ihnen sein Angebot ausrichten kann. Für den Leser sind Bestsellerlisten gut, weil er so wenigstens im Glauben gelassen wird, dass so viele vor ihm nicht irren konnten.

Schlecht sind Bestsellerlisten dagegen für die vielen hervorragenden Autoren, die trotzdem keine Bestseller schreiben. Für ihre Verlage, die diese Nichtbestseller unverdrossen veröffentlichen. Und im Grunde für alle wirklich lesenswerten Bücher abseits des Massengeschmacks, die vom profitorientierten Handel schamhaft wegsortiert werden. So gesehen sorgt auch die "Spiegel"-Liste dafür, dass unbekannte Bücher oft unbekannt bleiben.

Doch für Bestseller gibt es kein einheitliches Rezept. Und alle, die behaupten, dass sie dieses Rezept kennen würden, geben nur vor, dieses Geheimnis zu kennen. Denn täten sie es wirklich, würde es ja nur noch Bestseller geben. Fest steht daher nur, dass Bestseller nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie schon so erfolgreich sind. Und dass ein Bestseller nicht automatisch auch ein gutes Buch sein muss.