Luk Perceval verwandelt Anton Tschechows letzte Komödie “Der Kirschgarten“ in ein komisch-trauriges Tanz-Theater: schlüssig, aber ungewöhnlich.

Hamburg. Keine Kirschbaumblüte. Kein großbürgerlicher Salon mit Samowar. Nur eine Reihe von Stühlen an der Rampe. Im leeren schwarzen Raum schweben weiße, verschieden große Leuchtkugeln. Sie erinnern an Gestirne oder Planeten, spenden mal mehr, mal weniger Licht. Ein kosmisches Bild hat Kathrin Brack für Luk Percevals Spiel über die Liebe und den Tod nach Anton Tschechows letzter Komödie "Der Kirschgarten" geschaffen. Mit der Hammondorgel im Hintergrund erinnert der Raum aber auch an einen Tanzsaal. In gewisser Weise inszenieren der Regisseur und der Choreograf Ted Stoffer auch einen Totentanz, der in seiner szenischen Form mit den Stühlen ebenso gut von Pina Bausch stammen könnte. Noch eine Erinnerung. In diesem um Erinnerung, Vergangenheit und Vergehen der Zeit kreisenden, zugleich komischen und traurigen Endspiel einer Familie.

Der "Ähhh" soll verkauft werden. Lopachin spricht offenbar zum x-ten Mal über den Kirschgarten. In Percevals auf knappe zwei Stunden verkürztem Text will er nicht Sommerhäuser auf dem abgeholzten Grund erbauen, sondern Rapsfelder für Biodiesel anlegen, um damit gutes Geld zu machen. "So ein Blödsinn", fertigt ihn die Besitzerin Ranjewskaja (Barbara Nüsse) barsch ab und bricht in Lachen aus. "Lieber Schnaps statt Raps", kalauert ihr seniler Bruder Gajew (für Komik zuständig: Wolf-Dietrich Sprenger). Nun lachen alle den Bauernsohn aus. Höhnisches Gewieher - genau wie früher.

Doch Lopachin gehört die Zukunft. Tilo Werner sitzt in der Mitte der Stuhlreihe. Ein russischer Geschäftsmann am Handy, durchaus zu Tränen des Selbstmitleids fähig, doch unfähig, Warjas Liebe zu erwidern. Oda Thormeyer rekelt sich im hässlich gelben Kleid neben ihm, lässt vergeblich den Rock hochrutschen.

Position und Haltungen des auf zehn Schauspieler reduzierten Ensembles, ihre Blicke und Gesten erzählen in den ersten Minuten mehr über die Beziehungen der Figuren als der in langen Pausen tröpfelnde Text. Der Regisseur gibt dem Publikum Muße, die Personen zu beobachten, die ihrerseits ihrem Schicksal tatenlos zusehen.

Lieber tanzen sie Walzer oder Cha-Cha-Cha und hängen ihren Erinnerungen nach. Barbara Nüsse, am Bühnenrand breitbeinig im Cocktailkleid thronend, erzählt, sich mehrmals wortgenau wie eine an Demenz Erkrankte wiederholend, über ihre großen Lieben und den Tod des kleinen Sohnes. Sie küsst, wie zum letzten Mal, gierig nach Zärtlichkeit, die jüngeren Männer, den Studenten Trofimow (Sebastian Rudolph) oder Diener Firs. Alexander Simon gibt ihn als eleganten, französisch parlierenden Tänzer: Er verkörpert ein Erinnerungsbild der Ranjewskaja an ihren jungen Geliebten und zugleich einen Engel des Todes, in dessen Armen sie stirbt. Die großartige Nüsse, einerseits jugendlich über das Parkett fegend, andererseits eine gebrochene Frau spielend, in den von Firs vorgezählten letzten Minuten ihres Lebens, erhält am Schluss zu Recht Ovationen

Anfangs schlägt der Hammondorgelspieler ironisch mit Francis Lais Ohrwurm zu Claude Lelouchs 60er-Jahre-Schmonzette "Ein Mann und eine Frau" das ewige Liebesthema und den verklärenden Retro-Ton der Figuren für Percevals Inszenierung an. Die Form des Tanztheaters ist ungewöhnlich, dennoch schlüssig aufgehend. In ihr spiegelt sich, in darstellerisch präzise ausgefeilter Zeichnung der Charaktere, der Tanz der gegenwärtigen Gesellschaft am Abgrund und der Kreislauf der Natur, die das Leben gibt und wieder zerstört.

"Der Kirschgarten" 12.3. u. 4.4., jeweils 20.00, Thalia-Theater, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de

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