Luk Perceval inszeniert erneut den “Kirschgarten“. Diesen Sonnabend hat im Thalia Tschechows letztes, 1904 uraufgeführtes Drama Premiere.

Hamburg. Anton Tschechows "Der Kirschgarten" scheint das Stück der Stunde zu sein. Stephan Kimmig hat die Komödie um Ankunft, Abschied und Verlust gerade am Deutschen Theater herausgebracht. Am Berliner Ensemble ist sie in Thomas Langhoffs letzter Regiearbeit zu sehen. Als Gastspiel aus den Sophiensaelen präsentierte Kampnagel die melancholiefreie, farcenhaft laute Fassung von Thorsten Lensing und Jan Hein mit Schauspielerprominenz aus Film und Fernsehen. Diesen Sonnabend hat im Thalia Luk Percevals Sicht auf Tschechows letztes, 1904 uraufgeführtes Drama Premiere. Barbara Nüsse ist als Gutsbesitzerin Ranjewskaja zu sehen.

"Der Kirschgarten" spielt in Russland um 1900, kurz vor der Revolution. "Das war eine Art Endzeit, wie wir sie jetzt vielleicht erleben", sagt Luk Perceval. "Das Stück hat mit unserer verschuldeten Gesellschaft zu tun, die nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll, und trotzdem immer weitermacht." Es gebe doch keine klarenAlternativen zur Krise. "Die Banken und Konzerne erzielen zwar Rekordgewinne, doch das Leben wird immer teurer, die Politik hat immer weniger Geld zu verteilen, die soziale Fürsorge ist gefährdet, auch die Kultur, die das demokratische System garantieren soll." Wir treten auf der Stelle oder bewegen uns im Kreis - genau wie die Tschechow-Figuren, meint der Regisseur. "Sie wissen alle, dass kein Geld mehr da ist, um den Kirschgarten zu erhalten, und nehmen das tatenlos zuschauend hin."

Neben der aktuellen habe dasDrama noch eine tiefere, universelleDimension, wie Perceval betont. "Den Kirschgarten verstehe ich als eine Metapher für das Leben, für das Blühen und den Zerfall in der Natur, für den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod." Zentrales Thema sei für ihn das Alter und Abschiednehmen vom Leben. "Die Ranjewskaja hat nur mehr eine Vergangenheit und keine Zukunft." Sie lebt in ihren Erinnerungen, ein Altersreflex, den man auch Demenz nennen könnte. Die Familie begleitet sie beim Sterben, ohne das wahrhaben zu wollen. "Wir werden geboren mit dem Bewusstsein zu sterben, aber unser ganzes Leben beschäftigen wir uns damit, nicht daran zu denken. Lieber versuchen wir, einen Sinn zu finden, Anerkennung, Bedeutung, Sicherheit." In Anton Tschechows Komödie entdeckt Perceval die Angst vor unserer Vergänglichkeit.

Er sieht das Stück naturgemäß jetzt anders als noch vor gut zehn Jahren. Da inszenierte er seine "Kirschgarten"-Kurzfassung am Schauspiel Hannover an einem riesigen Billardtisch. Eine Spieler- und Spaßgesellschaft verdrängte in Alkohol- und Rede-Exzessenden Untergang. "Jetzt bin ich ältergeworden, habe liebe Menschen zu Grabe getragen."

Die neue, von ihm auf der Basis von Thomas Braschs Übersetzung bearbeitete Version nähert sich Samuel Becketts "Endspiel". Die Schwierigkeit bei Tschechow sei, vom Naturalismus wegzukommen. "In der Zusammenarbeit zwischen dem Autor Tschechow und dem Theaterleiter Stanislawski ist dieses ausführliche Erklären der Figuren entstanden. Deshalb erzählen sie, woher sie kommen und was sie wollen." Perceval interessiert es jedoch nicht, von vergangenen Zeiten, fremden Ländern und deren Menschen zu erzählen. "Das kann ich nicht und will es auch nicht. Ob es Dramen von Shakespeare sind oder von Tschechow, ich versuche in den Texten existenzielle Fragen zu entdecken, die mich heute beschäftigen."

In seiner fast 30-jährigen Theaterarbeit hat der Flame, der in Antwerpen ebenso zu Hause ist wie in Berlin oder Hamburg, öfter dieselben Stücke zweimal inszeniert. "Das macht mir Spaß, ich hätte jetzt Lust auf einen dritten 'Macbeth'. Mir fällt beim Ansehen meiner Inszenierungen immer etwas auf, was ich noch genauer oder schärfer hätte machen können." Als Regisseur müsse man sein eigener Lehrmeister sein. Das Paradoxe an diesem Beruf des Vermutens sei, dass man sich bei jeder Inszenierung fühle wie als Kapitän mit seiner Mannschaft auf einem Schiff ohne Kompass. "Man ist der, auf den alle mit großen fragenden Augen schauen, und man muss eine Vermutung äußern, die für alle plausibel klingt und sie dann auf einen Weg bringt." Bleibt einem nur, seiner Intuition zu vertrauen, sich selbstkritisch weiterzuentwickeln, um noch radikaler, präziser, konkreter zu werden. Perceval betrachtet es als Aufgabe des Regisseurs, einen Text nicht nur werkgetreu wiederzugeben, sondern ihn in die Gegenwart zu holen.

Der Schmerzpunkt in seiner "Kirschgarten"-Fassung ist eine alte Frau, die das Leben nicht loslassen kann. "Auch ein Bild für unsere Gesellschaft, die immer älter wird." Auf "rrrussische Säääle" und melancholische Samowar-Seligkeit wird das Publikum vergeblich warten, sagt der Regisseur lachend: "Es ist eben ein 'Kirschgarten' unter vielen anderen."

"Der Kirschgarten" Sa 3.3., 20.00 (Premiere), Thalia-Theater, So. 4.3., 19.00, Karten zu 27,- bis 44,- unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de