Große Wortkunst: Der neue Roman “Die sterblich Verliebten“ des spanischen Bestsellerautors Javier Marías erzählt von einer fatalen Beziehung.

Seit 1996 in Deutschland Javier Marías' Roman "Mein Herz so weiß" erschien und zum Bestseller wurde, gilt der Spanier bei uns als Kandidat für den Literaturnobelpreis. Zu Recht, denn die Prosa dieses Autors, der im vergangenen Jahr 60 Jahre alt wurde (insgesamt hat er zehn Romane und einige Erzählbände in 44 Ländern veröffentlicht) erschafft mit betörender Leichtigkeit, großer Wortkunst und assoziativen Ideenspielen die Substanz, aus der sich Handlung und Inhalt all seiner Werke speisen. Es sind die großen, die einzigen Themen der Literatur, über die Marías in fast jedem seiner Romane schreibt: die Liebe und der Tod.

Verrat, Lügen und Gestehen, die moralischen Skrupel, die aus Reden und Schweigen entstehen, sind Marías' Angelegenheiten. Die Täuschung ist sein unermüdlich variiertes Grundmotiv. So handelt "Morgen in der Schlacht denk an mich" davon, dass der Mensch sich allzeit etwas vormacht. Am Beginn des Romans steht der Selbstmord einer jungen Frau, die sich mit ihrem Liebhaber getroffen hat. "Welcher Abgrund, welches dunkle Geheimnis verbirgt sich hinter der grausigen Tat?", fragt Marías. Die Handlung kreist um die Themen Tod und Unfall, um die Ehe, die Wirkung von Gedanken, Wünschen und Geheimnissen, um Verdacht und Betrug, um Voyeurismus und Komplizenschaft.

Im dritten Band von "Dein Gesicht morgen" heißt es "Man wünscht es nicht, aber man zieht es immer vor, dass derjenige stirbt, der neben einem ist." In "Mein Herz so weiß" wird die Hauptfigur Juan Ohrenzeuge eines Streits eines Liebespaares, in dem die Geliebte den Geliebten bittet, seine Ehefrau doch endlich umzubringen. Und aus all diesen Toten, ihren Gesprächen über Leidenschaft und Vernunft, sucht Javier Marías seinen Weg durch das Dickicht der Gefühle. Jeder seiner Romane, die Titel sind meist Shakespeare-Zitate aus "Macbeth" oder "Richard III.", ist ein Gedankenpuzzle über die Frage: "Was wäre, wenn ...?" und entlockt dem Leben Überraschendes.

Und so dreht sich auch Marías jüngster Roman wieder um Liebe und Tod, um Moral und die Frage des "Wenn". All die Ideen, die er bereits in seinen früheren Romanen umkreist hat wie der Adler die Maus, entwirft er auch hier wieder. Ein Mann stirbt in "Die sterblich Verliebten", ein Mann, den Maria, eine Verlagsangestellte, jeden Morgen im Café dabei beobachtet hat, wie er sich zärtlich seiner Frau widmete. Das Paar, zwei sich scheinbar innig Liebende, wird jäh durch den Tod, durch einen völlig sinnlosen Mord an dem Mann, auseinandergerissen.

In Gedanken lässt Maria das Leben des Mannes Revue passieren. Was tat und dachte er, kurz bevor er erstochen wurde? Wie hat seine Frau ihn in Erinnerung? Galt der Anschlag einem anderen? Wusste der Getötete etwas, das er zuvor mit seinem Freund Javier besprochen hatte? Macht der Freund sich an die Witwe ran? Ist sie zu trösten? Wie sieht ihr Leben nach einem Jahr aus? Nach drei Jahren?

Wir erleben all diese Szenen, die Gedanken, die sich winden, im Kreise drehen, auf immer neue Abwege begeben, in der Geschichte mit, die das Buch erzählt. Und wie Maria den Verdacht schöpft, Javier hätte den Mord in Auftrag gegeben. Was ist wahr? Was passiert mit den Lebenden, nachdem ein Angehöriger gestorben ist? Und: Wirbelt es nicht das gesamte menschliche Zusammenleben durcheinander, wenn Tote wiederkehren?

Marías bemüht dazu einen Roman von Balzac, in dem der Held, der für tot erklärte Oberst Chabert, mühsam ins Leben zurückkehrt und dort keinen Platz mehr findet. Und Marías lässt seine Heldin Maria sich in den besten Freund des Ermordeten verlieben, den gut aussehenden Javier Díaz-Varela (Maria und Javier, ein schönes Namensspiel des Autors). Javier hat kaum anderes im Sinn, als die schöne Witwe seines Freundes zu trösten und für sich zu gewinnen. Ach, das Leben ist rätselhaft. Und schlägt ständig neue Haken.

"Für mich ist das Verliebtsein ein Ergebnis von Zufällen, es ist eine Lotterie, manchmal auch nur eine Frage, wer gerade zu haben ist, wir sind sehr abhängig davon, wer in unser Blickfeld tritt oder in wessen Blickfeld wir treten, und deshalb soll mein Roman dazu anregen, das Verliebtsein als eine Art Tombola zu betrachten", hat Javier Marías unlängst in einem Interview gesagt und ergänzt: "Ich verstehe den Wunsch von Verliebten, ihre Beziehung zu adeln und mit dem Schicksal in Verbindung zu bringen, glaube aber, dass das falsch ist."

So wie der Tod ganz unversehens und ungerechterweise eintritt, so erwischt uns die Liebe, weiß der Autor. Oder kann man Liebe doch planen? Díaz-Varela jedenfalls kommt seinem Ziel, der schönen Witwe, nahe. "Es kommt sehr selten vor, dass man Schwäche für jemanden empfindet", sagt er, "echte Schwäche, die uns schwach macht. Das Entscheidende ist, dass sie uns jede Objektivität nimmt, uns auf ewig entwaffnet, bei allen Streitigkeiten kapitulieren lässt". Hat Díaz-Varela sich also dermaßen in die Frau seines Freundes verguckt, dass er dessen Tod herbeiwünschte, gar organisierte? Wollte der Ehemann sterben? Von seiner Frau loskommen? Ist die Liebe ein Zustand, der alles erlaubt?

Javier Marías wälzt im Gespräch und Selbstgespräch seiner Figuren alles nur Denkbare herum, urteilt nicht zwischen Gut und Böse, sondern entwirft eine fesselnde literarische Sinfonie. Am Ende ist nichts mehr sicher. Keine Überzeugung und vielleicht nicht einmal die Liebe. Das ist spannend wie ein Krimi. Voller Gefühle. Und wenn es so etwas gäbe: intelligenter Gefühle. Ganz hohe Romankunst.

Javier Marías: "Die sterblich Verliebten". Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, 430 S., 19,99 Euro