Ballettdirektor John Neumeier wird heute 70 Jahre alt. Der Tänzer Ivan Liska gratuliert ihm exklusiv im Abendblatt – eine besondere Gratulation.

Lieber John,

man bat mich, zu Deinem Geburtstag ein Grußwort zu schreiben. Wie gerne tue ich das! Wie schmal aber wirkt dieses Grußwort, gemessen an Deinem Lebenswerk.

Mir kommt in den Sinn die Kraft des Mannes, dessen Inspiration, Eloquenz, Dialektik, Ausdauer, Disziplin, Humor, Lebenskraft und Theaterlust ich 20 Jahre lang aufsaugte. Dieser Mann wollte immer besondere Tänzerpersönlichkeiten um sich scharen - in meinen Jahren: Midinet, Kruuse, Klaus, Messac, Haigen, Charles, Scott, Hyatt, Kirk - und eine "Choreographer's Company" schaffen. In "Wie es euch gefällt" gibt es die Figur des Touchstone (Prüfstein), er könnte als Synonym für den Anspruch gelten, den dieser Mann an seine Tänzer stellte. Im letzten Choral der "Matthäus-Passion", eine Art von Kontemplation, sollte die Compagnie fünf Kreise bilden. Als Gleichnis des Humanismus. Es wollte lange nicht gelingen. Und dieser Mann fragte uns, wie denn die Menschheit fortschreiten solle, wenn dieses Ensemble nicht fähig sei, derartige Einfachheit zu erreichen? Ja, dort im Ballettsaal, beim Choreografieren, verbrachten wir mit ihm die prägendste Zeit, aufgehoben bei ihm, denn nur er wusste, wohin die Idee führt, was aus unseren Körpern herausgeholt werden kann!

Mir kommt auch in den Sinn: die Niedergeschlagenheit, nachdem wegen eines explodierten Scheinwerfers in der Brooklyn Academy of Arts in New York eine Vorstellung abgebrochen werden musste. Andererseits die Dance-Magazine-Award-Verleihung mit dem Laudator Leonard Bernstein. Johns Euphorie, in seiner Geburtsstadt Milwaukee aufzutreten! Die Euphorie, aus dem Operettenhaus eine eventuelle Ballettbühne machen zu können. Die unzähligen Verhandlungen mit der Hamburger Kulturbehörde. Die Kranzniederlegung der ganzen Compagnie in Hiroshima und die "Matthäus-Passion"-Vorstellung dort. Die Gastspiele in Südamerika, Paris, St. Petersburg, Moskau, Pompeji. Busreise nach Luxemburg, wo er, gerade mit "Kameliendame" für Stuttgart beschäftigt, fragte, ob jemand Chopins Klavierkonzert habe, und ich mit einer Musikkassette dienen konnte. Lange vor der iPod-Zeit. Gastspiel in Bregenz, wo man auf dem Weg zum Frühstück sein Zimmer passierte und daraus Mozart hörte - ein neues Ballett!

+++ Leben und Werk +++

+++ John Neumeier wünscht sich zum Geburtstag einen Bus +++

Seine Unbedingtheit ließ ihn beim Grußwort seines Förderers August Everding zum Deutschlandbesuch des Papstes protestieren, als in der Aufzählung der grüßenden Künstler sowohl die Tänzer als auch die Choreografen fehlten. Dieser Mann half, die Anhebung von Tänzergagen zu forcieren - "comme il faut"! Um seine Vision zu komplettieren, schuf er ein Ballettzentrum in Hamburg, eine Arbeitsstätte der Compagnie und Schule - seit 2011 auch des Bundesjugendballetts -, die den Taxifahrern so geläufig ist wie die Landungsbrücken oder der Flughafen.

Als junger Tänzer schlug ich ihm vor, ein Ballett nach Pasolinis "Teorema" zu kreieren. Er antwortete: "Das habe ich schon gemacht: ,Die Stille'."

Als frischer Direktor des Bayerischen Staatsballetts in München erhielt ich einen Brief, in dem er mir Glück wünschte und zugleich die hellen und dunklen Tage beschrieb, die mir wohl begegnen würden. Weil er es wusste! (So geschieht's bis heute.)

Die Werke des Hamburger Ehrenbürgers sind ein fester Bestandteil im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts. Das Gleiche gilt für Paris, Kopenhagen, Stuttgart, die Ballettensembles in San Francisco, New York, Moskau, Toronto, Mailand, Tokio, Stockholm, Wien, Amsterdam, St. Petersburg - sie alle bekamen ihre John-Neumeier-Chance.

Lieber John, glaube mir, ich gebe zu gerne zu, wie viel ich von Dir gelernt habe und wie Du mich und Generationen von Tänzern geprägt hast. Und die Zuschauer! Du magst Weißwein, ich mag Rotwein. Einigen wir uns auf Champagner. Darin glitzern die Sterne, die Du Deinen Tänzern, Deinen Zuschauern auf die Bühne holst. Ich beglückwünsche Dich zu Deinem 70. Geburtstag, wissend, dass ich es in Vertretung für unzählige Gratulanten tun darf!

Unser Autor Ivan Liska, 1950 in Prag geboren, prägte etliche Neumeier-Ballette. Er war Erster Solist im Hamburg Ballett, 1998 übernahm er die Leitung des Bayerischen Staatsballetts. Als künstlerischer Direktor erwies sich Ivan Liska in 14 Jahren ebenso erfolgreich wie als Tänzerpersönlichkeit. Am 4. Februar erhielt er den Deutschen Tanzpreis 2012.