Michael Ondaatjes fantastischer neuer Roman “Katzentisch“ handelt von einer grotesk ereignisreichen Schifffahrt und einer Reise ins Ich.

Die falsche Fährte ist verführerisch - ein Erzähler namens Michael auf einer Schiffspassage, die sich perfekt in die Lebensgeschichte des Autors fügt, der zudem behauptet: "Zunächst erinnerte ich mich an die dreiwöchige Seereise als an eine ruhige Zeit. Erst heute, Jahre später, nachdem meine Kinder mich aufgefordert haben, die Reise zu schildern, wird sie zu einem Abenteuer und sogar zu etwas Bedeutsamem im Verlauf eines Lebens, wenn ich sie mit ihren Augen sehe. Zu einem Initiationsritus."

Auf den ersten Blick scheint es, als habe der kanadische Autor Michael Ondaatje, der durch sein Buch "Der englische Patient" weltbekannt geworden ist, mit seinem neuen Roman "Katzentisch" literarisch eine kleine Leerstelle in seiner Biografie genutzt - so wie er schon einmal, in seinem Buch "Es liegt in der Familie", tief in seine Vergangenheit zurückgekehrt ist, als er vom Vater und dessen wahnwitziger Verwandtschaft holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung erzählte, von der Welt auf Ceylon, die er früh verlassen musste, nachdem die Eltern sich getrennt hatten.

Die Mutter ging nach England. Michael Ondaatje wuchs zeitweilig bei Verwandten in Colombo auf, bevor er 1954, mit elf Jahren, der Mutter per Schiff nach London folgte.

Nun also die Erinnerung von Michael an seine dreiwöchige Passage 1954 auf der "Oronsay" von Ceylon nach England. Doch kann man einem Erzähler trauen, den seine jungen Reisegefährten Mynah nennen, nach dem tamilischen Namen für den Beo, einen sprachbegabten Vogel, der Stimmen nachahmen kann, aber als unberechenbar gilt?

Mynah und seine gleichaltrigen Freunde an Bord, der ebenfalls allein reisende draufgängerische Cassius und der eher introvertierte Ramadhin, genießen die ungewohnte Freiheit auf dem Passagierschiff und beschließen, jeden Tag mindestens ein Verbot zu übertreten.

Die drei sitzen bei den Mahlzeiten am Katzentisch, weit entfernt vom Captain's Table also, was doppelt komfortabel für sie ist. Sie fühlen sich am Rande der Schiffsgesellschaft quasi unsichtbar, ideale Voraussetzung dafür, die "Oronsay" zu erkunden. Und sie haben die interessantesten Tischgenossen um sich - so exzentrische Menschen wie den Bordpianisten Mr. Mazappa, der eine Vorliebe für Jazz und für schlüpfrige Anekdoten hat. Oder Miss Lasqueti, die eine Jacke besitzt, in deren Taschen Platz für viele Tauben ist, und die sich beim Lesen auf dem Deck langweiliger Krimis entledigt, indem sie die Bücher beherzt über Bord wirft. Nicht zu vergessen Larry Daniels, ein Botaniker, der einen üppigen Garten von ceylonesischen Pflanzen im Schiffsbauch transportiert - auffällig ist die Vorliebe für Gewächse mit berauschender oder giftiger Wirkung.

Die Kinder begreifen rasch, dass Erwachsene viele Geheimnisse haben. Und das wirkt äußerst anregend auf die Fantasie. Ganz besonders bei den offensichtlich mysteriösen Gästen an Bord: dem diebischen Baron C., dem schwerbewachten Gefangenen Niemeyer, der einen Richter ermordet haben soll und nur nachts in Fesseln an Deck darf. Und dem märchenhaft reichen Hector de Silva, der von einem Fluch geschlagen ist und seine Tollwut-Infektion von Spezialisten in England behandeln lassen will, während seine Entourage - inklusive einem ayurvedischen Heiler - ihn während der Überfahrt am Leben erhalten soll. Die Geschichten werden zunehmend fantastisch, die neugierigen Jungs scheinen einen Krimi zu leben, den Miss Lasqueti vermutlich nicht über Bord schmeißen würde. Es ist mit der kaum noch zu bändigenden Fantasie ein bisschen wie bei der Filmvorführung an Deck, die von einem Sturm jäh beendet wird: "Ein Windstoß riss die Leinwand aus ihrer Befestigung und fegte sie wie ein flatterndes Gespenst über das Meer, und die Bilder wurden ziellos auf das Wasser hinausprojiziert."

Mynah erlebt auf dieser Reise eine vorher nicht gekannte Freiheit und eine Verwirrung der Gefühle. Er verliebt sich und ahnt, dass intensive Nähe und unüberbrückbare Einsamkeit, größtes Glück und Verlusterfahrung sehr dicht beieinander liegen können. Der Junge beginnt, erwachsen zu werden und sich so unvermittelt selbst zu entdecken wie in dem Augenblick, als er sich erschrocken erstmals im Spiegel einer Luxuskabine sieht, zu der er dem diebischen Baron C. Zutritt verschafft hat.

Ein Schlüsselerlebnis ist die Begegnung mit einem Passagier, der so gut wie nie seine Kabine verlässt. Mr. Fonseka heißt der Mann, den Mynah zufällig entdeckt. Dem Lehrer genügt es, sich in seiner Zeitkapsel an Bord mit dem "Rüstzeug der Bücher" zu umgeben.

Er führt die Jungen ein in seine geistige Welt - und infiziert vor allem Mynah, der Fonsekas Abenteuererzählungen weiterzuspinnen beginnt. Wie ein Zauberer, der sein Publikum am Ende desillusioniert, stellt Michael Ondaatje in einer Nachbemerkung explizit fest, dass "Katzentisch" eine reine Fiktion sei, obwohl der Roman sich hin und wieder des Kolorits und der Örtlichkeiten von Lebenserinnerungen und Autobiografie bedient habe. Dennoch ist dem Autor auch hier nicht ganz zu trauen - denn hinter all den Geschichten verbirgt sich eine tiefere Wahrheit, die er an Bord der "Oronsay" geschmuggelt hat. Wie gesagt, Ondaatje ist ein sehr verführerischer Erzähler. Und der Leser glaubt gern, was Mynah ihm sagt: "Manchmal finden wir unser wahres, ganz und gar uns gehörendes Ich in der Jugend. Dann erkennen wir etwas in uns, was anfangs winzig ist und in das wir hineinwachsen werden."

Michael Ondaatje liest heute Abend um 19.30 Uhr aus seinem Roman im Literaturhaus, Schwanenwik 38. Die Veranstaltung ist ausverkauft.