Der Schriftsteller Michael Ondaatje schwärmte einmal: "Nächtliche Reisen liebe ich. Man hat den Großteil des eigenen Lebens auf den Rücken geschnallt."

Ein schönes Bild. Und es beweist vor allem eins: Mister Ondaatje fliegt Business- oder Erster Klasse. Denn nur wer sich mit der gebotenen Ruhe und genügend Platz um die Ellbogen diesem Bündel auf seinem Rücken widmen kann, hat Vergnügen an nächtlichem Reisen. Nur ihm gelingt es, sein Leben prüfend auseinanderzunehmen, die einzelnen Teile liebevoll oder besorgt zu mustern, sie neu zu sortieren und etwas bequemer verpackt wieder auf die Schulter zu hieven. "Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?" - hier und jetzt ist Zeit für das Grundsätzliche.

Hinten, bei uns Economy-Paxen, stellen sich ganz andere existenzielle Fragen: Warum quillt der Dicke, wenn er im Flieger ist, immer aus meinem Nebensessel? Weshalb landet, wenn er tatsächlich einmal drei Reihen weiter sitzt, die Frau mit der schwachen Blase neben mir? Womit hat mein Hintermann seine Knie angefeilt? Darf man Quengelkinder heimlich mit Schokolade bestechen? Welche von den Flugbegleiterinnen kriege ich dazu, noch einen von den guten Cognacs rauszurücken? Und wieso komme ich in der Schlange vor dem Klo immer genau neben den zu stehen, der am wenigsten zu erzählen hat und dies am ausführlichsten breitwalzt.

Auch nicht die mindeste Chance zur Selbstreflexion? Doch - es gibt eine Ausnahme: Die bangen Momente vor dem Spiegel im grausamen, hellen Licht der Toilette. Sie erschüttern so manche Existenz bis ins Mark: "Das soll ich sein? Wie konnte es so weit kommen? Wo soll das alles enden?"

Später, wenn die Hoheit über die Armlehne zurückerobert ist, wenn alle Blasen geleert, alle Kinder erschöpft und alle Suffköpfe abgefüllt sind, könnte es tatsächlich schön werden. Endlich allein mit dem leichten Vibrieren, dem Lichtkegel der Leselampe - und dem gehaltvollen Paket auf dem Rücken, allein in diesem seltsam unbestimmten Zwischenraum des Noch-nicht-weg und Noch-nicht-angekommen . . .

Doch wir, dünnhäutig und aufgekratzt von viel zu viel Nähe, kleistern ihn zu, diesen Moment, mit billigem Wein, dümmlichen Filmen und Rigoletto aus scheppernden Stöpseln im Ohr. Am nächsten Morgen tragen wir nicht nur den Großteil unseres Lebens weiterhin unsortiert huckepack. Sondern auch Rückenschmerzen, Bilder aus unguten Traumfetzen und einen schweren Magen vom Omelette, das wir eigentlich nicht essen wollten. Gut geschlafen, Mister Ondaatje?