Sybil Gräfin Schönfeldt kennt sich aus mit Manieren, übersetzt große Literatur, schreibt über kulinarische Traditionen und füllt Wissenslücken.

Hamburg. Bücherstapel schon auf dem letzten Treppenabsatz, wie Wachtürme stehen sie da. Drinnen in der großzügig verwinkelten, alsternahen Dachwohnung in Winterhude wartet auf den Mantel eine überlange Garderobenstange, stille Zeugin großer Gastlichkeit. Und noch mehr Bücher. In den wandhohen Regalen der beiden Arbeitszimmer, aufgestapelt davor und in den kleinen Möbelschluchten daneben. Besonders hübsch ein Stapel, der sich angelehnt an Wand und Regal zu einer eleganten freitragenden S-Kurve geformt hat, aus der man nichts herausziehen könnte, ohne eine mittlere Katastrophe auszulösen.

"Das sind 1000 Geschichten", sagt die Hamburger Autorin Sybil Gräfin Schönfeldt, die in diesen Tagen ihren 85. Geburtstag gefeiert hat. Die Gräfin ist ihr Mädchen- und seit der Hochzeit ihr Autorenname; am Telefon meldet sie sich mit "Schlepegrell".

1000 Geschichten - so könnte sie auch das eigene Leben beschreiben. Die Katzen zum Beispiel. Sie stehen vor den Büchern, wo immer es geht. Es müssen Hunderte sein, in den Mustern vieler Kulturen, von Meißener Porzellan bis zu chinesischem Kitsch. Die liebevolle Manie der Sammlerin wird nur nachlässig mit kunsthistorischem Interesse kaschiert. Sie hatte selbst mal eine richtige Katze, als kleines Mädchen. Aber hier in der Großstadt? Geht nicht.

Mehr als 50 Jahre wohnt Dr. Sybil Schlepegrell in dieser Wohnung, hat hier ihre beiden Söhne groß werden und ihren Mann sterben sehen. Hat mehr als 20 Bücher geschrieben - über Kinder, Kochen, das rechte Benehmen und das Alter. Hat mehr als 120 übersetzt, unter anderem Werke von Pearl S. Buck, Charles Dickens und Lewis Carroll. Hat Artikel verfasst für "Constanze". Später hat sie sie unter anderem für "Die Zeit", den "Stern", die "Süddeutsche Zeitung", das Hamburger Abendblatt, "Petra" und "Essen und Trinken" geschrieben. Das "Zeit-Magazin" hat sie mitgegründet. Mal abgesehen davon, dass ein Umzug die fragile S-Kurve zerstören würde: Diese Wohnung ist ein Gehäuse, in dem sich ein Leben widerspiegelt; etwas, das sonst weitgehend verschwunden ist - wie ein Vaterhaus, das an die nächste Generation übergeben und neu bewohnt wird in der Tradition der Familie, sagt sie. Ein fast trotziges Festhalten an gelebten Erfahrungen. Ein Leben, das so lange währt, dass jede Erzählung nur Momentaufnahme sein kann. Begonnen hat es in Bochum, im Februar 1927. Der Vater: ein österreichischer Reichsgraf, mit der Aufhebung des Adels auf sich selbst angewiesen, er hatte eine kaufmännische Ausbildung. Die Mutter stirbt nach der Geburt. Das Kind wächst bei Verwandten auf, in Nassau an der Lahn, später in Göttingen.

Vom Adel geblieben sind der Name - und viele Geschichten. Dass der Großvater in Österreich seine Hemden nach London schicken ließ zum Waschen, dass die Großmutter einen eigenen Bahnwaggon hatte, der an den Orientexpress angehängt wurde, wenn sie ihre Eltern in Konstantinopel besucht hat. Vorbei. Die unrentablen Waldschlösser - verkauft. Diese Großeltern landeten in einem "Greisenasyl" (Altersheim) am Wiener Türkenschanzpark.

In Göttingen wird alles versucht, um dem Mädchen jeden Standesdünkel auszutreiben. Was für ein Donnerwetter des Stiefgroßvaters, als eine Bedienerin mit der Dreijährigen auf den Treppen vor der Haustür plappert: "Sybil ist die Gräfin", und das Kind wiederholt: "Sybil is Gäfin."

Wenn sie heute zurückschaut, freut sie sich, wie sehr in allen ihren Familiengeschichten auch ein Stück deutsche Geschichte steckt: "Wenn man das Glück hat, das wirklich verfolgen zu können, dann wird die Geschichte, die man in der Schule gelernt hat als abstrakte Zahl, plötzlich spürbar und erlebbar."

Die Schule besuchte sie in der Hitler-Zeit. Am 9. November 1944, kurz vorm Abitur, wurde sie mit dem letzten Jahrgang zum Reicharbeitsdienst einberufen. "Und meine Großeltern haben mich nach Oberschlesien fahren lassen!" Sie ist heute noch fassungslos. "Wenn das meine Kinder gewesen wären, hätte ich wer weiß was angestellt, um sie nicht dahin fahren zu lassen, wo man gewusst hat, dass die Russen immer näher kamen jeden Tag. Und dass in Ostpreußen die Leute schon den Koffer gepackt hatten und auf den verdammten Fluchtbefehl warteten."

Der Stiefgroßvater, ganz alter Offizier, gab ihr auf den Weg mit: "Bedenke, du bist jetzt ein Soldat, du trägst das Kleid des Führers. Ein Soldat harrt dort aus, wohin ihn die Pflicht stellt." Sie landete im äußersten Zipfel von Oberschlesien, vielleicht 20 Kilometer von Auschwitz. Hier wurde Wasserpolackisch gesprochen (eine gängige Mischung aus Deutsch und Polnisch), nach der Grundausbildung arbeitete sie in einem Gutshaus. "Die Kleidung war schon durch viele Generationen Arbeitsmaiden gegangen, 100-mal geflickt." Ihre Erinnerungen sprudeln. Aus dem Einsatz wurde bald der Rückzug nach Böhmen, dann Prag. "Es war eine seltsame Zeit zwischen Normalität und immer krasseren Umständen. Und bei der Flucht entwickelt man eine solche Mechanik, dass der Körper es sich spart, Gefühle zu produzieren." Am Ende stand ein Straflager in Österreich, weil sie nicht mehr Führerin werden wollte. Nächtliche Arbeit in einer Bombenfabrik. In ihrem Buch "Sonderappell" (dtv) erzählt sie von dieser Zeit.

In den 70er-Jahren sollte daraus eine 13-teilige TV-Serie gemacht werden. Aber ein Netzwerk alter Arbeitsdienstführer drohte dem Sender, der knickte ein. Die junge Frau selbst wollten die alten Herren vor ein "Ehrengericht" zitieren ... Sie tippt sich mit dem Finger an ihre Stirn. "Unfassbar!"

Nach der deutschen Kapitulation kommt sie bei Verwandten im Schwäbischen unter. Sie erinnert sich noch genau an das neue Zuhause. "Das war ein solches Glück, eine solche Freiheit. Davor war man immer in Organisationen, die ganze Zeit eingeteilt, ständig eingespannt. Und jetzt wieder ein einzelner Mensch, man musste nicht bei jedem Geräusch den Kopf einziehen, der Himmel war frei, keine Flugzeuge, keine Angst, kein Alarm. Man konnte endlich machen, was man wollte. Und lesen, was man wollte."

Zum Beispiel die Pocketbooks der GIs, die sie aus dem Müll fischte, kleine Broschüren mit Texten von Dos Passos, Faulkner, Hemingway.

Aus dieser Zeit stammt ihr Interesse am Kochen und am Essen. "Ich brachte einem US-Soldaten ein bisschen Deutsch bei, als Gegenleistung bekamen wir seltsame Lebensmittel aus seinem Proviant, Trockenmilch, Trockenei, Maisprodukte." Es gab Faltblätter für den Umgang damit; seither sammelt sie Rezepte.

Sie schließt das Abitur ab, studiert Germanistik und Kunstgeschichte - Göttingen, Hamburg, Wien. Arbeitet neben dem Studium: "Ich habe stundenweise Hemden gebügelt, Hunde ausgeführt, Hamburger Stadtpläne handkoloriert." Sie promoviert 1951, "über Lyrik". Volontiert beim "Göttinger Tageblatt" und erinnert sich noch heute lebhaft an das Rasseln der Linotype-Setzmaschinen. Und in Hamburg wird sie dann Journalistin. Ihr erster Artikel für "Die Zeit" hat gleich große Wirkung: Ein Zehnzeiler über ein grässliches Kinderheim in einem nebligen Tal bei Göttingen führt zu dessen Schließung. Ein älterer Kollege dämpft ihren Optimismus: "Liebes Kind, das passiert Ihnen nur einmal im Leben" - nämlich, dass man so rasch die Welt verändert, verbessert und rettet.

Zehn Jahre ist sie festangestellte Redakteurin, schreibt über Literatur und Kinderliteratur, über Essen und Trinken. 1957 heiratet sie den Kaufmann Heinrich Schlepegrell ("aus norddeutschem Uradel, das 'von' hat denen das Preußische Heroldsamt geklaut"); die Familie ist wie die der Schönfeldts 800 Jahre zurückzuverfolgen. Um ihre Kinder betreuen zu können, kündigt sie "mitten auf dem Weg nach oben" - und ist noch heute dankbar für die folgende Erweiterung ihre Themenkreise.

Die Gräfin Schönfeldt wandert als Künstlername auf ihre Buchtitel. Zu denen gehören irgendwann auch Benimm-Bücher. "Die Leute denken: Gräfinnen wissen das alles, das teilt sich denen durch Osmose mit oder sitzt unter der Haut oder so was Ähnliches." Ihre Benimm-Fibel "Einmaleins des guten Tons" wird 1987 zum Bestseller. "Manche sagten damals zu mir 'Benimmpäpstin'. Das ist Quatsch, denn ich habe nur geschaut: Was ist vernünftig und was musst du zur Not wissen, weil es immer noch Leute gibt, die sich danach richten und dich danach beurteilen."

Sie ging das Thema journalistisch an. Und stieß bis in ihre Redaktionen hinein auf ein großes Bedürfnis nach der Beantwortung von Stilfragen. "Wenn die Schmerzgrenze erreicht ist, wenn zu viele Menschen das Gefühl haben: 'Ich lebe in einer feindseligen Welt, ich werde nicht beachtet', dann kommt dieser übliche Schrei: Die Leute benehmen sich schlecht", sagt sie. "Aber sie benehmen sich nicht schlecht, sondern sie benehmen sich anders - nicht so, wie der jeweilige Mensch das braucht. Jeder braucht eine Umgebung, die ihn akzeptiert und anerkennt. Und zu diesem Anerkennen gehört, dass man, wenn man sich gegenübersteht, sich in die Augen schaut, dass man einander aufmerksam zugewandt ist, dass man auf den anderen Rücksicht nimmt."

In den Fragen des menschlichen Miteinanders hat sie zu viel erlebt, um Nachlässigkeiten auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie redet mit Leidenschaft, aber immer zurückhaltend freundlich. Es gibt nur ein Thema, das ihr noch mehr am Herzen liegt: Essen und Trinken. Vor anderthalb Jahren erschien "Zu Tisch, zu Tisch!", eine wunderbare Kulturgeschichte der Küche, des Kochens und des Essens, die den Leser durch das 20. Jahrhundert begleitet und zeigt, was wann in Mode kam, erfunden wurde, vergessen wurde. Wie die Küche nach ideologischen Gesichtspunkten gestaltet und bewirtschaftet wurde. Ein Stück bisher weitgehend unbeachteter Alltagsgeschichte. Koch- und Wissenslücken schloss sie auch mit Büchern wie "Bei Thomas Mann zu Tisch", "Gestern aß ich bei Goethe" oder "Bei Astrid Lindgren zu Tisch".

Sie sammelt Kochbücher, Rezepte, sogar Postkarten mit Stillleben, auf denen Lebensmittel zu sehen sind. "Meine Großeltern stammten ja noch aus dem vorvorigen Jahrhundert", sagt sie, "so weit zurück ist mir vieles gegenwärtig." Sie kennt die Mangelwirtschaft, die nach Inflation und Wirtschaftskrise nahtlos in die Sparküche der Nazis überging und dann in die Kriegsküche - bis hin zum Wirtschaftswunder und dem Biowahn von heute.

Wir landen am Ende bei der Tradition des gemeinsamen Essens in der Familie. "Das ist das A und O", sagt sie, "es war mir immer ein Vergnügen, einen großen, vollen Tisch zu haben." Und Zeit zu haben, Augen und Ohren füreinander. Heute ist es stiller geworden.

Aber sie arbeitet weiter. Weil sie 25 Jahre lang für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels Buchbesprechungstage für Händler und Bibliothekare gemacht hat, wird sie noch häufig in Buchhandlungen und Stadtbüchereien eingeladen, was sie freut: "Damit hab ich weiter die Jugend um mich herum."

Schreiben tut sie, wie immer, nicht am Computer, sondern mit einem der vielen penibel gespitzten weißen Bleistifte. Linkshändig. Und mit dem ihr eigenen alltagstauglichen Pragmatismus denkt sie laut über ein neues Kochbuch nach: "Kochbuch für die kleine alte Frau." Sie erzählt fröhlich, wie man drei Tage lang aus einem Pott gekochten Reis die schönsten Köstlichkeiten zaubern kann, mit geschmorten Tomaten, gebraten mit Spiegelei, mit Curry und ein bisschen Fleisch.

Zurzeit schließt sie gerade ihren literarischen Küchenkalender für das Jahr 2013 ab -mit Textauszügen, Bildern und Rezepten rund ums Jahr. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, zwischen all den Männern, die genüsslich übers Essen schreiben, auch mal eine hübsche junge Frau zu finden.

"Frauen", sagt sie, "schreiben etwa so: 'Dann setzten wir uns um zwölf zu Tisch, danach gingen wir in den Garten.' Frauen müssen ja selber kochen, dann schreiben sie nicht noch darüber."

Wie gut, dass es diese gibt, die es trotzdem tut!