Jean-Pierre und Luc Dardenne bezeichnen sich selbst als Regisseure der Hoffnung - ihr Film “Der Junge mit dem Fahrrad“ ist dafür das beste Beispiel.

Berlin. Jean-Pierre und Luc Dardenne sind entspannt, das ist unübersehbar. Mit einem Lächeln versinken sie in den weichen Lederpolstern eines Berliner Hotels, während die dunklen Blätter des frisch aufgebrühten Rooibos-Tees sich langsam in der Glaskanne entfalten. Mit ihren bequemen Jeans, der Strickjacke, die Luc trägt, und den braunen Allwetterschuhen würden die Belgier problemlos als Berufsschullehrer durchgehen. Tatsächlich arbeiten die beiden auch viel mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Aber nicht als Lehrer, sondern als Regisseure.

In der Nähe von Lüttich geboren, begannen die Dardennes ihr Filmschaffen mit dokumentarischen Arbeiterporträts, die sie in den Städten ihrer wallonischen Heimat drehten. Ihr erster Spielfilm "Falsch" kam 1986 in die Kinos und erzählt von einer jüdischen Familie, die Opfer des Naziterrors wird. Seitdem ging es nur noch bergauf. Zweimal haben sie in Cannes die Goldene Palme gewonnen, für ihren aktuellen Film "Der Junge mit dem Fahrrad", der an diesem Donnerstag in die Kinos kommt, gab es den Spezialpreis der Jury. Gute Gründe, entspannt zu sein - zumal die Dardennes inzwischen zu einer Marke geworden sind. Jeder neue Film wird mit Spannung erwartet, weil er vor Wahrhaftigkeit glüht, kleine Geschichten von den Rändern der Gesellschaft erzählt, ganz unprätentiös Menschen ins Blickfeld rückt, die abzustürzen drohen, die dem Leben entgleiten und dann doch mit aller Kraft die Hand nach dem rettenden Ufer ausstrecken. Es sind die Marginalisierten, denen sie eine Stimme und vor allem Bilder geben, deren individuellen Schicksalen sie universelle Momente der Wahrheit entlocken - ohne je ins Melodramatische abzugleiten. "Wir sind Regisseure der Hoffnung", sagt Luc Dardenne, 57, und "Der Junge mit dem Fahrrad" ist dafür das bislang beste Beispiel.

+++ Ein kleines bisschen eine bessere Welt +++

Hier treibt den zwölfjährigen Cyril (Thomas Doret) nur eines an: der brennende Wunsch, seinen Vater zu finden, der ihn eines Tages im Kinderheim einfach abgegeben hat, angeblich nur für kurze Zeit, und dann nie wieder aufgetaucht ist. Er ist umgezogen, ohne seinem Sohn zu sagen, wohin. Cyril glaubt an ein Missverständnis, reißt immer wieder aus und trifft bei seiner verzweifelten Suche eines Tages auf Samantha (Cécile de France). Die Friseurin nimmt den Jungen erst an den Wochenenden auf, dann wohnt er ganz bei ihr. Doch bis Cyril erkennt, dass sie ihn liebt, dass Samantha seine Zukunft ist, braucht es nicht nur Zeit, sondern auch ein paar schmerzhafte Erfahrungen.

"Früher waren Eltern noch Vorbilder, heute scheinen sie aber kaum noch etwas weiterzugeben, und die Kinder müssen sich allein ihren Weg ins Leben suchen" beschreibt Jean-Pierre Dardenne, 60, das zentrale Thema seiner Filme. Das galt für die 18-jährige Rosetta, die ohne Rücksicht auf Verluste um einen Arbeitsplatz kämpft ("Rosetta", 1999), wie für den jungen Gelegenheitsgauner Bruno, der sein Baby verkauft, um an Geld zu kommen ("Das Kind", 2005). Und nun auch für Cyril, der vor Zorn und Sehnsucht nicht stillstehen kann, dessen immer wieder aufs Äußerste angespannter kleiner Körper den Wunsch nach Geborgenheit ausdrückt. Mit Thomas Doret haben die Dardennes für die Rolle einen Jungen gefunden, dessen Kraft schlicht überwältigt. Wie er den Telefonhörer packt, um seinen Vater anzurufen und mit jeder Faser signalisiert "Egal was ihr tut, ich lasse nicht los!", mit welch unbändiger Energie er stehend Fahrrad fährt, das bleibt hängen.

Und paart sich kongenial mit dem zurückgenommenen Spiel der Belgierin Cécile de France, ein Star des europäischen Kinos. "Cécile de France ist eine sehr erfahrene Schauspielerin, die es gelernt hat, bei der Arbeit auf bestimmte Techniken zurückzugreifen", erklärt Luc Dardenne. "Unsere Aufgabe war es, sie dieses Handwerkszeug vergessen zu lassen. Sie musste alles aufgeben." Deshalb wurde zunächst 20 Tage lang ohne Kamera geprobt, so lange, bis Cécile verschwunden und Samantha geboren war. Das aufeinander abgestimmte, sehr ausgewogene Spiel der beiden Hauptdarsteller trägt einen Film, der nicht nur buchstäblich sonnendurchflutet, sondern auch von einem tief empfundenen Humanismus durchdrungen ist.

Sind die Dardennes also Sozialromantiker? Immerhin sollte der Film sogar ursprünglich den Titel "Ein Märchen unserer Zeit" tragen. Doch Luc Dardenne lacht nur und sagt: "Wir lieben einfach das Leben. Und wir glauben, dass auch bei jemandem, der einsam und verlassen ist, durch eine menschliche Begegnung Hoffnung entstehen kann. Wie sollte man auch sonst leben in einer Welt ohne Gott?"

In der Tat spielt die Religion in den Filmen der Dardennes oberflächlich betrachtet keine besondere Rolle. Doch wer etwas tiefer blickt, findet immer wieder Momente eines spirituellen Erwachens, der Überwindung des Ego, der Vergebung, Mitmenschlichkeit und Sorge um den Nächsten. Das ist mal so spektakulär wie in "Lornas Schweigen", als eine Albanerin einen Junkie heiratet, um durch ihn eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen - und plötzlich Mitgefühl für den Verelendeten entwickelt. Oder es wird nebenbei erzählt, etwa wenn Samantha zu Cyril bei ihrer ersten Begegnung sagt: "Du kannst mich ruhig festhalten. Nur nicht so fest." Kurz davor hatte der Junge sie mitsamt ihrem Stuhl im Wartezimmer eines Arztes umgerissen.

Die Versuchung ist groß, ihre Filme als sozialkritische Manifeste zu deuten, doch die Dardennes lehnen nicht nur psychologische Deutungen als "aufgesetzt" ab, Luc besteht auch darauf, dass ihre Geschichten bislang nur zufällig in der unteren Mittelschicht spielen, oft noch weit darunter. "Wir wollen keine sozialen Milieus schildern, sondern erzählen einfach von Schicksalen, die uns interessieren" sagt er. Dass sein Bruder und er sich am Ende des Tages immer auf die Seite der Habenichtse schlagen, ist aber auch klar. Davon kündet nicht nur ihr sympathisches Berufsschullehrer-Outfit, daran lassen auch ihre bewegenden Filme keinen Zweifel.

"Der Junge mit dem Fahrrad" läuft ab dem 9.2. in den Hamburger Kinos.