Überzeugendes Kinomärchen: “Der Junge mit dem Fahrrad“

Es ist ein Missverständnis, dass Filme versuchen sollten, die Wirklichkeit möglichst detailgetreu nachzubilden. Anders gesagt: Es sind nicht immer die besten Filme, die wie aus dem Leben gegriffen daherkommen. Anders liegt der Fall beim mehrfach ausgezeichneten belgischen Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne. Mitten hinein purzelt man in ihre Filmwelten, die meist in Lüttich und Umgebung angesiedelt sind, meist an eher unwirtlichen Orten. In Wohnsiedlungen, Bahnhofsstationen, oder, wie in diesem Fall, einem Kinderheim.

In "Der Junge mit dem Fahrrad" tritt Cyril kräftig in die Pedale; gerade hat er erfahren, dass die Telefonnummer seines Vaters nicht mehr existiert. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Wie die Dardennes diesen Fluchtversuch aus dem Heim mit der Handkamera einfangen, die tobende Energie, die pulsierende Wut des elfjährigen Jungen, das ist eine wunderbare Szene, die mit dem Zusammentreffen mit einer hübschen Friseurin endet. Samantha (Cécile de France spielt mit einem inneren Leuchten) kommt wie ein rettender Engel in das Leben von Cyril und nimmt ihn bei sich auf - ganz zu Recht bezeichnen die Regisseure den neuen Film als "modernes Kinomärchen".

In ein düsteres Grau sind die Werke der Dardennes für gewöhnlich getaucht, hier scheint die Sonne, als wollte sie all das Hoffen und Sehnen ausleuchten, das sich in den 87 Minuten ausbreitet. Die Brüder interessieren sich für an den Rand Gestoßene; sie erzählen von Menschen, die lügen und betrügen, stehlen und verletzen und oft den einzigen Menschen verraten, der sich um ihr Wohl sorgt. So auch hier. Dass "Der Junge mit dem Fahrrad" dennoch hoffnungsvoll endet, macht diese Film-Wirklichkeit für ein paar Momente zu einer besseren Welt.

Bewertung: empfehlenswert

Der Junge mit dem Fahrrad B/F/I 2010, 87 Min., o. A., R: Jean-Pierre und Luc Dardenne, D: Thomas Doret, Cécile de France, im Holi, Koralle, Zeise; www.derjungemitdemfahrrad.de