Mit “Zwischen den Runden“ legt die Hamburger Band Kettcar ein ausgereiftes Popalbum vor, das dem Leben Wahrhaftigkeit abringt.

Hamburg. Der Liebe seines Lebens Essen aus dem Haar zu pulen, zählt gewiss nicht zum klassischen Romantik-Repertoire. Aber: "Liebe ist das, was man tut." Marcus Wiebusch weiß das. Und er singt davon. Eine durchzechte Nacht. Die Freundin huckepack. Ein vollgekotztes Bad. Alles wegwischen. Die Fenster auf Kipp stellen. Sich nicht im Stich lassen. Ein sehr gutes Liebeslied ist Wiebusch und seiner Band Kettcar mit "Rettung" gelungen. Denn der Hörer gewinnt das Gefühl, dass da das Leben über das Klischee gesiegt hat. Und genau das ist die Stärke der neuen, vierten Platte, die die Hamburger Gitarrenpoprocker am kommenden Freitag mit "Zwischen den Runden" vorlegen. Der Liebe und dem Tod, dem Scheitern, dem Glück und vor allem dem ganzen alltäglichen Dazwischen ringen sie Vers um Vers, Akkord um Akkord ein Stück Wahrhaftigkeit ab. Das klingt mal tröstend, mal desillusioniert, auch mal holprig und pathetisch. Aber letztlich kriegt Wiebuschs brummelige Nicht-Gesangsstimme das Herz doch immer wieder an den Haken.

"Im Grunde genommen wollen wir mit Kettcar nichts anderes als Popsongs schreiben, die die Leute berühren und ihren Intellekt nicht beleidigen", sagt Wiebusch. Wie gewohnt trägt er Anti-Popstar-Outfit: Wollpullover, Jeans. Balu, der Bär. Groß und freundlich. Auf einer Tapeziertischkonstruktion vor ihm stehen Wasser und Energiegetränke. Der Raum ist klein und liegt am Ende eines verwinkelten Büros seiner Plattenfirma Grand Hotel van Cleef. Zweimal ist das Label bereits umgezogen, blieb jedoch immer im direkten Umkreis des Feldstraßenbunkers. Eine Beständigkeit, die Kettcar noch mehr als ohnehin schon den Charme des Unaufgeregten verleiht. Die offensichtliche Hype-Resistenz bedeutet aber nicht, dass es keine Veränderung gibt.

Neu ist etwa, dass Bassist Reimer Bustorff bei "Zwischen den Runden" stärker am Songwriting beteiligt war als je zuvor. Fünf der zwölf Stücke stammen aus seiner Feder, seinem Kopf, seinem Bauch. Eine Entwicklung, die Wiebusch kreativ durchatmen ließ. "Nach dem Vorgängeralbum 'Sylt' hatte ich eine kleine Songwriterkrise. Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich für mich wieder Energie und eine Vision gefunden hatte, wie deutschsprachige Songs gut klingen", sagt er. Bustorff hingegen hätte "einen nach'm anderen rausgehauen". Dass kaum zu spüren ist, wer welches Stück geschrieben hat, zeigt auch, wie sehr das Quintett in den vergangenen zehn Jahren seit seiner Gründung nicht nur kumpelig, sondern auch künstlerisch zusammengewachsen ist - selbst wenn 2010 mit Christian Hake ein neuer Schlagzeuger hinzukam.

Die erfolgreiche Streicher-Tour, die Kettcar zu "Sylt" gemacht hat, motivierte die Band, ihren Sound weiter zu öffnen. Fans müssen zwar nicht auf die halb euphorischen Hymnen verzichten, die kettcartypisch zwischen Krise und Katharsis pendeln. Doch von Jazz-Anleihen bis zu Northern-Soul, von Streicherschmelz und Bläsersätzen bis zu Stakkato-Piano und elektronischen Einsprengseln hat sich das Feld durchaus geweitet. Und "mit dieser großen Offenheit" in der Musik, erzählt Wiebusch, hätte er dann auch über nichts Nebensächliches singen können. Es mussten die großen Themen her.

Weitere Infos unter kettcar.net

Sehen Sie hier das Video zu "Schrilles buntes Hamburg":

"Ich hätte mir vor ein paar Jahren nicht träumen lassen, ein Album zu schreiben, das so viel von Liebe handelt", sagt Wiebusch. Doch der Musiker, - verheiratet, zwei Kinder - wollte aus der Kiste mit den Beziehungen noch mehr herausholen. Und so hinterfragt "Weil ich es niemals so oft sagen werde", ob ein "Ich liebe dich" noch möglich ist, wenn der Satz im Film bereits dermaßen überinszeniert wurde.

Die Ballade "In deinen Armen" wiederum schneidet die Geborgenheit in Liebe gegen die Trennungsgeschichte eines Paares namens Thomas und Mareike. Jeder Zweisamkeit droht, "dass aus dem Kitsch ein Krieg werden kann", erzählt uns dieses Lied. Aber am Ende siegt der Optimist, der vorschlägt: "Lass uns doch einfach alles geben."

Kettcar ist jedoch keine Band, die die Liebe als individuelles Glücksversprechen idealisiert. Die Single "Im Club" lässt all "die trostlosen Helden, die blinden Propheten, die stolzen Versager" zusammenkommen. Kein Aufruf zur Revolution, keine Occupy-Ode, sondern ein "Anti-Vereinzelungs-Song", wie Wiebusch es nennt. "Ganz egal, wie sehr dein Leben zerfällt, du bist nicht alleine, alle haben das alles schon erlebt", erläutert er und schiebt noch hinterher: "Die Geschichte ist auch eine Abkehr von dem, was man mir am Anfang oft vorgeworfen hat, dieses Befindlichkeitsfixierte." Das Kreisen um den eigenen emotionalen Nabel und ein Ich, das kein lyrisches ist, sondern tatsächlich das des Songschreibers, nerve ihn in der Musik zunehmend. In kollektiverem Fahrwasser bewegt sich daher auch "Schrilles buntes Hamburg", die nervöseste Nummer auf dem Album, in der Wiebusch sich gegen die leicht konsumierbare Verwertung von Kunst wehrt.

"Auf Champagner-Vernissagen/bei den brennenden Barrikaden" - in diesem Spannungsfeld bewegt sich die gentrifizierte Stadt. Da singt nicht mehr der lokalpatriotische "Landungsbrücken raus"-Sinnsucher von 2002. Mit dem Alter wird der Blick ein anderer, muss ein anderer werden, wie die Stücke zeigen, die sich mit Krankheiten beschäftigen und mit dem Sterben. Für Kettcar kein Tabu. Ob ein Patient den Tod nun überwindet und sein Leben feiert ("Im Süden") oder ob ein Freund beerdigt wird, den man aus den Augen verloren hat ("Zurück aus Ohlsdorf").

"Wenn du die 40 überschritten hast, dann wirst du immer damit konfrontiert, dass im Freundkreis jemand Krebs hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass das mit 20, 25, 30 ein Thema für mich war", sagt Wiebusch. Eine Erkenntnis, die einen bestärkt, dem Leben möglichst viele Facetten abzugewinnen. Und sei es, jemandem auch mal das Essen aus dem Haar pulen zu müssen.

Kettcar Zwischen den Runden (GHvC, VÖ: 10.2.); live 6. + 7.3., Große Freiheit (jew. ausverkauft); 12.3., Kampnagel, 14.00: Eintritt frei, 20.00: 23,50 Euro