18 Tage, 88 Veranstaltungen: Die Lessingtage des Thalia-Theaters enden, gedacht wird auch der Opfer der Kairoer Unruhen

Hamburg. Dass er einmal seinen Namen einem Theaterfestival in hochaktuellem Kontext leihen würde, hätte sich Lessing wohl nicht träumen lassen. "In dieser Minute finden in meiner Heimatstadt Kairo Straßenschlachten statt", sagt Akteur Omar Ghayatt zu Beginn der Performance "Made in Paradise" am Sonnabend im Thalia Gaußstraße und bittet um eine Gedenkminute für die Opfer. Der Abend, den er mit dem holländischen Performance-Künstler Yan Duyvendak und der Dramaturgin Nicole Borgeat entwickelt hat, bringt westliche Klischees über die arabische Welt auf den Punkt - und umgekehrt. Aus zwölf Fragmenten wählen die Zuschauer per Mehrheitsentscheid das Programm des Abends, eine diktatorisch verordnete Abweichung der Künstler inklusive. Aparte Miniaturen sind darunter, wenn Duyvendak in "Schönheit des Djihad" erzählt, wie er sich auf einer Hochzeit in einem finsteren Viertel Kairos in einen jungen Araber verliebte. Dabei war er doch mit einem Stipendium hierhergereist, um "Terroristen aufzuspüren".

Beim gemeinsamen Tee am Ende des Abends ist die Welt zwischen Burka und Bikiniposter, Oktoberfest und Freiheitsdemo zumindest auf der Bühne auf wundersame Weise in Ordnung. In der Begegnung mit dem Fremden lernt man sich selbst besser kennen, lautet die Botschaft dieses gelungenen Abends. Sie galt für viele der 88 Veranstaltungen der diesjährigen Lessingtage, die knapp 15 000 Zuschauer besuchten, 2000 weniger als im Top-Jahr 2011, aber trotzdem noch 1900 mehr als im Auftaktjahr 2010.

Auch im dritten Festivaljahr funktionierte noch nicht alles wie von Zauberhand. 18 Tage lang hatten die Besucher Zeit, sich zum Thema "Die Welt im Ich - Das Ich in der Welt" einen atemlosen Parcours aus Theatergastspielen, Schulprojekten, Barkassenexpeditionen, Lesungen, Projektvorstellungen, Diskussionen und Konzerten anzuschauen. Erhebendes war darunter, wie die Jagd des britischen Kommissars, der in Simon Stephens' "Three Kingdoms" in einer Mordsache über England, Deutschland und Estland ermittelte. Bis er am Ende aller Glaubenssätze beraubt beim Origami-Spiel mit der mystischen Täterfigur "White Bird" landet. Sebastian Nüblings an den Münchner Kammerspielen als kühler Albtraum inszenierter Abstieg ins Unterbewusstsein der Welt gilt schon jetzt als eine der wichtigsten Produktionen der Saison. Auch weil sie auf positive Weise verdeutlicht, dass die globale Vernetzung im Theater angekommen ist.

Nicht alles überzeugte so wie dieses Top-Gastspiel. Zu sehen gab es viel Anregendes, thematisch Relevantes, auch Reibendes. Starken Zuspruch beim Publikum fanden da vor allem im Großen Haus oft Hausproduktionen wie "Quijote. Trip zwischen Welten" und "Merlin", aber auch "Invasion" oder "Emilia Galotti" in der Gaußstraße.

Der Hunger nach Auseinandersetzung mit fremden Religionen und interkulturellen Welten ist ungebrochen. Und lockte erneut zahlreiche Besucher zur diesmal themenbezogenen "Langen Nacht der Weltreligionen". Drei Stunden lang lauschten sie den von Ensemblemitgliedern engagiert vorgetragenen Schöpfungsmythen von den Inuit aus Alaska bis "Vernichtung des Drachen" aus Altägypten. Auch sie haben im Fremden sich selbst besser kennengelernt. Lessing hätte das gefallen.