Der umstrittene Theaterabend “Gólgota Picnic“ bei den Lessingtagen ist eine Bilder-Reise, die polarisiert - aber keine Blasphemie.

Hamburg. Es ist ein wunderbares, verletzliches Bild. Mario Formenti, der kurz zuvor noch die Tracht des Schnellimbissverkäufers trug, sitzt so, wie Gott ihn schuf, am Flügel und schlägt Joseph Haydns "Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze" an. Alle neun Sätze. Ein schöneres Bild kann man für die Verlorenheit der menschlichen Existenz in der Welt kaum finden. Aber was tut man, bis alle Messen gesungen sind? Wie soll man leben?

So lautet die eigentliche Frage, die der spanisch-argentinische Theatermacher Rodrigo García in seinem Stück "Gólgota Picnic" stellt, das vorab für so viel unnötige Erregung sorgte. Man könnte dem Abend im ausverkauften Thalia in der Gaußstraße vorwerfen, aus einem inzwischen etwas abgehangenen Fundus des Orgien-Mysterien-Theaters der 70er-Jahre zu zitieren - ganz sicher aber nicht, dass es Gott lästere oder pornografisch sei.

García und seine sechs Performer treiben in ihrer Collage zentrale Fragen des Menschseins um. Sie erörtern sie mithilfe eines zugespitzten, wilden, frechen Aktionismus in einem spektakulären Bühnenbild: einem Camping-Dinner der Ratlosen und Verzweifelten auf einem Teppich von 24 660 Hamburger-Brötchen.

Die Bilder, die sie dort finden, sind prall, barock, gewollt überdosiert, aber häufig kraftvoll. Da wird ein Big-Mac-Turm mit Regenwürmern errichtet und groß auf die raumgreifende Leinwand projiziert. Darsteller pürieren Würste durch einen Fleischwolf, lassen Unverdautes durch ihre Zähne rinnen, bespritzen sich mit allerlei Farben und schmieren sich mit Honig ein. Ein gefallener Engel hat per Videoprojektion Probleme mit der Landung. "Ich kann euch weder lehren, Städte noch ganze Völker auszulöschen, ich kann euch die Techniken für einen Holocaust nicht beibringen: Das habt ihr bereits getan", sagt er. Nur eine der vorgetragenen Abrechnungen mit dem Monströsen. Sie reichen im Laufe des Abends vom Kindesmissbrauch bis zu den Obszönitäten der Konsum-, Wegwerf- und Überflussgesellschaft.

García rührt Philosophisches und Kritisches, Christliches und Volkstümliches in eine assoziative Textsuppe. Das muss den Zuschauer, der zwischen Szenerie und Übertiteln hektisch hin- und herwechselt, notwendig überfordern. Die These lautet: Das Böse ist kulturelles Erbe, illustriert durch die historisch überlieferte Bildsprache - die "Gólgota Picnic" gnadenlos seziert. Zum Beispiel Rubens' Gemälde "Aufrichtung des Kreuzes": Der Hund darin wird zum einzigen Unschuldsengel, der in seinem Leben nie Verrat geübt hat. Museen stehen am Pranger, weil sie die Barbarei zum Genuss darreichen.

Es ist eine gottlose Welt, die sich in der Grausamkeit eingerichtet hat. Auch ein Autounfall kann zum transzendenten Erlebnis werden, vorausgesetzt, man hat einen MP3-Player, der es ermöglicht, der Matthäuspassion bis kurz vor dem Exitus zu lauschen. Am Schluss löst sich das Individuum in der Körper-Orgie auf. Zurück bleiben erschöpfte, ausgestreckte Picknicker.

Haydns Musik und der einsame Pianist verleiten im Anschluss an das Stück dazu, das Gesehene nachwirken zu lassen. Dafür findet auch Pater Hermann Breulmann, Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Hamburg, beim Publikumsgespräch anerkennende Worte. "Das Stück hat was", sagt er. Zwar sei das Theatererlebnis eine Herausforderung, aber der Zweifel sei ihm nicht fremd. Auch er habe seinen Nietzsche gelesen. Er ist nicht der Einzige, der in dem Stück sogar eine "Tiefengrammatik des Gnostischen" entdeckt und resümiert: "Den lieben Gott wird das Stück cool lassen." Anders als der so wunderbar traurige Klavierspieler nach dem eruptiven Bilderreigen. "Gólgota Picnic" ist nicht Endprodukt einer verkommenen Welt, sondern ihre Anklage. Und das ist nicht zuletzt ein zutiefst christliches Anliegen.