“Polina“ heißt die Graphic Novel, in der Bastien Vivès mit ganz eigener Bildsprache die berührende Geschichte einer Tänzerin erzählt.

Hamburg. Kleiner als in diesem Moment wird Polina nicht mehr aussehen, das ganze Buch über nicht. Die ersten Bilder folgen ihrem Blick: Die Mutter sitzt auf dem Fahrersitz, das Lenkrad in beiden Händen. "Hast du heute deine Dehnübungen gemacht?", fragt sie, Polina antwortet: "Ja." Pause. "Es hat wehgetan." Und dann sieht man sie zum ersten Mal: die kleine Tänzerin auf dem Rücksitz des Wagens, ein Mädchen, das fast in seinem Mantel versinkt. Schwarze Augen, schwarze Nase. Segelohren.

Es braucht ein paar Seiten, bis man sich an die eigenwillige Bildsprache von "Polina" gewöhnt hat, der neuen Graphic Novel des französischen Illustrators Bastien Vivès. Natürlich wollte er das so. Gezeichnete Geschichten über die Welt des Balletts gibt es genug, die meisten in Rosé-Tönen und voller Klischees. Pink ist bei "Polina" nur das Cover. Der Rest sind Comic-Zeichnungen in Schwarz-Weiß und Beige; Tutus, das gleich zu Beginn, kommen so gut wie nicht vor. Denn "Polina" ist kein rosa Ballettprinzessinnen-Kitsch - es ist die zauberhaft-rätselhafte Geschichte einer Tanzkarriere, mit allem Glück und allen Abgründen.

+++ Graphic Novels: Im Kopf des Zeichners +++

Denn Polina ist talentiert, Professor Bojinski, Leiter einer namhaften Ballett-Akademie, entdeckt sie gleich beim Vortanzen. Als Siebenjährige kommt sie ins Internat, ab dann spielt die Mutter in der Geschichte keine Rolle mehr. Aus der Luft gegriffen ist das nicht: Die rumänische Primaballerina Alina Cojocaru, Erste Solistin beim Royal Ballet in London, war neun, als sie ihre Heimat verließ und zur Ausbildung nach Kiew ging - ohne auch nur ein Wort Russisch zu sprechen.

Polina entwickelt sich rasch zur Lieblingsschülerin des strengen Meisters Bojinski; später, als sie fast volljährig bereits am Theater tanzt und nicht mehr an seiner Akademie, studiert sie trotzdem ein Solo mit ihm ein. Nie gibt es eine erotische Komponente im Beieinandersein der beiden.

Als ihr die doppelte Belastung zu viel wird, flieht Polina aus der Stadt. Sie heuert zunächst bei der Kompanie von Michail Laptar an, einem modernen Choreografen, dann strandet sie in Berlin. Gemeinsam mit zwei Theaterstudenten entwickelt sie eine neue Kunstform, immer wieder kommen ihr nun Sätze von Bojinski in den Sinn. Als würde letzten Endes doch alles einen Sinn ergeben. Später, da ist sie bereits weltberühmt, besucht Polina Bojinski noch einmal in der Heimat.

Bastian Vivès hat gesagt, dass es ihm bislang noch nie so ergangen ist beim Zeichnen einer Graphic Novel - dass die Hauptperson die Geschichte selbst in die Hand nimmt. "Es hatte keinen Sinn, sich die Handlung vorab zu überlegen", erzählt Vivès, "alles, was ich mir vorher überlegt hatte, konnte ich schnell in den Mülleimer schmeißen." Das merkt man der Handlung auch an. Sie ist nie gewollt oder betont, sondern fließt so dahin, und manchmal hat man das Gefühl, dass alles wieder offen ist im Leben von Polina.

Je weiter das Buch voranschreitet, desto feiner und ausdifferenzierter sind auch Polinas Gesichtszüge - sie entwickeln sich im Laufe des Comics. Die Striche werden dünner, die Gesichter weniger grob. Polina ist um die 30, als er endet, obwohl auch das kein richtiges Ende ist - man erfährt nicht, ob Bojinski und Polina ihr Solo vollenden. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gerade im Tanz eine besondere ist. Manchmal suchen Tänzer ein Leben lang nach der Person, die sie gleichsam quält und liebt - und das Beste in ihnen zum Vorschein bringt. Manchmal ist das aber auch nur schwer zu ertragen.

Unzählige Stunden hat Bastien Vivès die Körper von Tänzern studiert, um mit nur wenigen Strichen eine kaum greifbare Kunst abzubilden. Sofort erkennt man auf jedem Bild Polina wieder - sie hat eine schwarze Nase. "Mein Vater hat mich anfangs angebrüllt, ich könne das nicht machen, nur Hunde hätten schwarze Nasen in Zeichnungen - er ist ja selbst Illustrator", erzählt Vivès. Manchmal ist Polina nicht wirklich schön. Und dann plötzlich wunderhübsch, wenn ihr das lange Haar über die Schulter fließt oder sie tanzt, mit langem Hals und das Haar zum Knoten gebunden.

Bei allen Tänzern und Tänzerinnen, die in dem Buch vorkommen, sind die Beine und Arme viel länger und dünner als in der Wirklichkeit. Vivès hat sie nicht so gezeichnet, wie sie eigentlich sind. Der Körper einer Tänzerin ist mager, sehnig, oft ausgemergelt. Aber nur mit diesen Körpern ist es möglich, eine Illusion zu erzeugen - die der Schwerelosigkeit, der getanzten Zeitlupe. Wenn Tänzer für einen Moment in der Luft stehen, tun sie das ja nicht wirklich. Sie haben es nur jahrelang bis zur totalen Erschöpfung trainiert. "Mehr Leichtigkeit, es muss leicht aussehen", sagt Professor Bojinski an einer Stelle zu Polina. "Zeigen Sie den Leuten nur die Gefühle, die zum Ausdruck kommen sollen."

Es sind genau diese Worte, die Polina später noch einmal in den Sinn kommen. Zwischendurch gibt es immer wieder Skizzen, wortlose Studien von Körpern, die sich drehen, sich halten oder springen. Als würde man in einem Tanzfilm minutenlang einfach nur Bewegungen zeigen. Schön ist das, mühelos und beeindruckend schlicht.

"Polina" Bastien Vivès/Mireille Onon, Verlag Black Velvet, 208 Seiten, 24,-