Shaun Tan beschwört bizarr-anrührende Welten in Buch und Film. Für “Die Fundsache“ bekam er einen Oscar. Heute ist er zu Gast in Hamburg

Hamburg. Es ist nur ein Fetzen Papier, der das kleine Mädchen tröstet oder zum Lachen bringt: ein weißes Blatt, gefaltet zu einem Vogel. Der sitzt mal auf dem Küchenregal und mal unter dem Hut des Vaters, er kommt per Post, oder der Vater faltet einen, wenn er die Sehnsucht nach der fernen Familie nicht mehr ertragen kann.

Der Papiervogel ist eines von vielen Motiven, die sich wie Seidenfäden durch das schleierzarte Gewebe von "Ein neues Land" ziehen. Der Australier Shaun Tan breitet in dem Buch die Geschichte einer Auswanderung aus. Er schildert Trennungsschmerz und Fremdsein, er skizziert Flüchtlingselend und das Grauen von Krieg und Verfolgung und singt das Lied von der Unverbrüchlichkeit der Liebe.

Shaun Tan erzählt seine Geschichte in winzigen und Doppelseiten-großen Bildern, in Sepia- und Grautönen, aber ohne ein einziges Wort. Braucht er auch nicht. Er zieht den Betrachter auch so mitten hinein in sein Epos.

Shaun Tans "Graphic novel", so die Fachbezeichnung, liegt die Geschichte seines chinesischen Vaters zugrunde, der als junger Mann nach Australien ausgewandert ist. Dort hat der Zeichner der Figur seine eigene Gestalt gegeben: die eines Mannes von kleiner Statur mit Brille, feinen, entfernt asiatischen Zügen und einem Anflug britischen Humors in den Augenwinkeln.

"Man muss wohl ein bisschen ein Nerd sein, wenn man das Zeichnen so genießt wie ich", sagt Shaun Tan, "wenn man sich so gerne in lächerliche Details vertieft." Seine Stimme ist so freundlich wie sein Gesichtsausdruck. Am Telefon klingt der 37-Jährige so entspannt, als hätte er keine Eile, als wäre er nicht von Melbourne nach Schweden gereist, als würde ihn eine Lesetour kreuz und quer durch Europa mit stundenlangem Signieren kein bisschen anstrengen. Aufhebens um seine Person macht er keins.

Dabei ist er ein Superstar seiner Disziplin. Vergangenes Jahr hat er sein eigenes Buch "Die Fundsache" als Kurzfilm herausgebracht, im Februar bekam er dafür einen Oscar, und am Dienstag hat er in Stockholm den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis 2011 entgegengenommen, mit einer Preissumme von gut einer halben Million Euro gewissermaßen der Literaturnobelpreis der Kinder- und Jugendliteratur. In Deutschland erscheinen seine Werke beim Hamburger Carlsen Verlag. Am Mittwoch ist er im Abaton zu Gast, gibt Einblicke in seine Künstlerwerkstatt und stellt den preisgekrönten Film vor.

"Illustration wird oft als sekundäres Medium angesehen", sagt der Künstler, "das steckt ja schon im Wort: dass der Zeichner die Zweite Geige neben dem Text spielt, dass er nur dekoriert. Dabei ist Zeichnen einfach eine andere Art, Dinge auszudrücken."

Shaun Tan erschafft sich nicht nur stets neue Welten, sondern auch zu jeder ihre eigene Bildsprache. Noch die kleinste Gefühlsregung kann er in einen Gesichtsausdruck oder eine Geste fassen. Die Bilder in "Ein neues Land" wirken wie mit dem Weichzeichner aufgenommen, wie ältere Fotos, geliebt, in der Brieftasche mitgeschleppt, gebraucht. Besonders virtuos wechselt Shaun Tan die Erzählzeiten, indem er etwa dicht an die Gesichter seiner Protagonisten heranzoomt, bis deren Pupille den Blick auf ihr Schicksal freigibt.

In "Die Fundsache" dagegen bilden unzählige technische Geräte den Hintergrund zu einer zutiefst menschlichen, ja philosophischen Geschichte über Zugehörigkeit. Wie Tan ganz nebenbei die allgegenwärtige Verwicklung in die moderne Technik ins Absurde steigert, das hat bei aller Melancholie auch viel hintergründige Komik.

Vielleicht ist es der Surrealismus, dem Shaun Tans gezeichnete Poesie ihre Sogwirkung verdankt. Fantasiewesen bevölkern seine Welten. Da lebt eine riesige Teekanne mit Beinen und Heuschreckenarmen oder ein Tierchen, das aussieht wie eine Kreuzung zwischen einer weißen Maus und einem winzigen, freundlichen Drachen, das da ist, wenn man sich einsam fühlt. Selbst Gegenstände, die auch in unserem Alltag vorkommen, haben bei Shaun Tan seltsame Hörrohre, Flossen oder Zacken.

Wer durch die Skizzensammlung "Des Vogelkönigs" blättert, die gerade erschienen ist, der könnte meinen, er schaute in Tans Kopf. Die Blätter feiern das Spontane, das Unfertige in allen möglichen Stadien. Von abstrakten Bleistiftkritzeleien bis zu regelrecht expressionistischen Nachtstücken in Öl oder Pastellkreide reicht das Spektrum des dargebotenen Werks.

In der Genauigkeit der Beobachtung des Künstlers offenbart sich seine Liebe zu den kleinen Dingen - ob es um die Rundung einer Tasse geht oder eine Sammlung von Ersatzteilen für die charmanten Hybridwesen, in denen Tan Natur und Technik vermählt.

Ob eine politische Aussage in seinen Bildern und Geschichten steckt, gar eine Zivilisationskritik? Der Schöpfer all dieser Welten äußert sich dazu nicht. Die Interpretation seiner Werke lässt er ausdrücklich offen: "Über die Jahre habe ich begriffen, dass Zeichnen etwas mit Kommunikation zu tun hat. Und das bedeutet, dass man den Leuten nichts vorgibt. Das ist etwas für Prediger oder Politiker." Es klingt fast verlegen, wie er diese kleine Spitze vorbringt, als stünde sie ihm nicht zu. Dabei hat er gerade ganz beiläufig eine Grundregel menschlichen Miteinanders formuliert.

Woher seine Ideen kommen, kann er selbst nicht genau sagen. Gegen den Mythos der Inspiration verwahrt er sich: "Das klingt, als flösse etwas von oben in ein aufnahmebereites Gefäß. Das ist mir zu passiv. Künstler erschaffen weniger, als dass sie verwandeln." Die Anschauung der realen Welt, die er für seine Kunst braucht, hat er sich früher im Kino geholt, beim Angeln oder Wandern. Jetzt reicht die Zeit höchstens noch für einen längeren Spaziergang. Das ist eben der Preis, den Shaun Tan für seine Berühmtheit zahlt. Sonst hat er damit aber kein Problem.

Auf die Frage, was Erfolg ihm bedeute, lacht er. "Einen sicheren Job", erwidert er und fügt hinzu: "Es ist fantastisch, dass es mir offenbar gelingt, die Menschen zu erreichen. Das ist ein Gefühl, wie wenn man in der Schule eine gute Note kriegt!"

Shaun Tan: 1.6., 19.00, Abaton (Bus 5), Allende-Platz 3. Karten zu 7,50/erm. 6,50 unter T. 41 32 03 20; www.shauntan.net