Der aus Lüneburg stammende Autor und Musiker Jan Böttcher aktualisiert in “Das Lied vom Tun und Lassen“ den deutschen Schulroman.

Hamburg. Der Schulroman erfährt in der deutschsprachigen Literatur derzeit eine Renaissance. Da ist zunächst Judith Schalanskys viel gelobter Roman "Der Hals der Giraffe" zu nennen, der in Mecklenburg spielt, in der Nachwendezeit. Ebenfalls in Norddeutschland ist Jan Böttchers Roman "Das Lied vom Tun und Lassen" angesiedelt. Weil der in Berlin lebende Autor aus Lüneburg stammt und die im Buch genannte größere Stadt in der Nähe Hamburg heißt, schließt der geneigte Leser leicht auf die friedlich in der Ebene liegende Heide als Ort weiter Teile der Handlung.

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Und weil das jugendliche Personal im Internet bloggt und lieber das Facebook aufschlägt als ein wirkliches, weil es lieber heimlich SMS schreibt als dem Unterricht zu folgen, ist "Das Lied vom Tun und Lassen" eindeutig ein Roman unserer Zeit. Er erzählt recht mühelos die Geschichte eines alternden Lehrers, der seinem Leben als Witwer einen Sinn verleihen will. Dazu die eines verkrachten Mittdreißigers, der an einer Dissertation arbeitet, seinen kleinen Sohn nur alle zwei Wochen sieht und sich zu allem Überfluss in eine 18-jährige Schülerin verliebt. Als dritte Person tritt genau diese selbst auf: Wir erfahren, was auf der Tournee ihrer Band durch Frankreich passiert.

Das Werk des versierten Erzählers Böttchers ist Schulroman, Coming-of-Age-Geschichte und Roadmovie zugleich. Wie Böttcher das alles unter einen Hut bekommt? Indem er die drei genannten Figuren aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen lässt: den Lehrer Immanuel Mauss, den Gutachter Johannes Engler und die Abiturientin Clarissa Winterhof.

Wer sich noch gut an seine eigene Schulzeit erinnert, dem dürfte zumindest die Atmosphäre nicht fremd sein, in der sich der Plot entfaltet: Es ist Sommer, und in der flirrenden Hitze, die das Land stilllegt, atmet man flacher als sonst. Ferienzeit, tote Zeit; ein Schuljahr ist um. Für den Alt-68er Mauss (dessen Charakter plausibel gezeichnet ist: Böttcher mag keine Klischees) ist es lediglich ein weiteres Jahr seiner zuletzt manchen Beanspruchungen ausgesetzten Laufbahn als Lehrer. Für Clarissa dagegen ist es das letzte Schuljahr. Und auf tut sich die Freiheit, aus der die Zukunft in großen Kellen schöpfen will. Oder die Leere, die nach den Tagen greift, die in der Julisonne verrinnen.

Im ersten Teil dieses melancholischen "Liedes vom Tun und Lassen" rekapituliert Mauss, der in einem Bauernhaus lebt, das Schuljahr. Es stand unter dem, wie er hofft, guten Stern seines unorthodoxen, die Schüler zur Eigenverantwortung erziehenden Unterrichtsstils. Sie duzen ihren Englisch- und Musiklehrer und besuchen ihn oft auf dem Land. Bindemittel dieser vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehung ist die riesige Plattensammlung des Paukers, die wie ein Heiligtum wirkt. Im Unterricht verfolgen sie ein Projekt, wie wir es zu unserer eigenen Schulzeit geliebt hätten: Sie planen die Karriere einer aufstrebenden Folk-Band.

Zu der Band gehört Clarissa. Sie hat ein sehr enges Verhältnis zu Mauss. Und eine Affäre mit einem Gutachter, der die Schule inspizieren soll. Denn die befindet sich, wie Böttcher (er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Musiker) unaufgeregt und en passant anklingen lässt, in einem Schockzustand.

Eine Schülerin hat sich kurz vor dem Abi umgebracht. Besonders Clarissa leidet darunter. Sie ist eine Tochter aus gutem Hause, der erfolgreiche Vater nie anwesend. Was nach einer platten Motivation für Clarissas Hingezogensein zu alten Säcken aussieht, stört nicht weiter in seiner psychologischen Schlüssigkeit: So ist das Leben, manchmal. Böttcher setzt seine Geschichte, die unaufdringlich von auf unterschiedliche Weise Gestalt annehmender Trauerarbeit handelt, mit einem sanft angeschlagenen Moll-Akkord in Schwingung. Sein Schreiben lebt von den sensiblen Beobachtungen, auch von den Selbstbespiegelungen der Figuren.

Clarissas Trauer hat etwas Manisches, die tote Mitschülerin taucht immer wieder als Trugbild auf. Was Clarissa selbst als Trost auffasst, die Täuschung erdet sie. Johannes Engler, der in sie verliebt ist, kann sich keinen Reim auf seine Affekte machen: Im Grunde verachtet er sich dafür, ohne seine die Schwelle zur Peinlichkeit stets übertretende Leidenschaft eindämmen zu können. Er will noch einmal jung sein.

Böttchers Roman aktualisiert den Schulroman. Er gehört in die Tradition von Musil, Hesse und Juli Zeh - und er braucht den Vergleich gerade mit Letztgenannter nicht zu scheuen.

Jan Böttcher: "Das Lied vom Tun und Lassen" . Rowohlt. 315 S., 19,95 Euro

Lesung am 17.1. im Literaturhaus. Beginn: 19.30 Uhr, Moderation Ina Hartwig