Der wortgewaltige und peinigende Roman “Der Tunnel“ von William H. Gass ist nach 15 Jahren übersetzen endlich auch auf Deutsch zu lesen.

Hamburg. Der Bewusstseinsstrom ist in der Literatur ein Mittel, das Gedankenmeer einer Figur (beinahe) ungefiltert und kunstvoll in Form zu bringen. Der Erfinder dieser Technik ist James Joyce. Sein "Ulysses" gilt als Weltliteratur. Aber auch als Brocken, als literarisches Ungetüm: als Herausforderung. Ein Roman, der jetzt auf Deutsch vorliegt, übertrifft das meisterliche Werk des Genies allerdings bei Weitem, was das erforderte Durchhaltevermögen des Lesers angeht. "Der Tunnel", im Original 1995 erschienen, ist das Hauptwerk des amerikanischen Schriftstellers William H. Gass, Jahrgang 1924. Es ist monströs, und das nicht nur wegen seiner unverschämten Stattlichkeit.

"Der Tunnel" gräbt sich durch beinahe 1100 Seiten. Sein Erzähler ist ein dicker, übellauniger Mann, der sich von seiner schlechtesten Seite zeigt. Das geht ganz einfach: Er muss den Leser einfach nur bis auf den Grund seiner Seele blicken lassen. Auf dem ist es schwarz. Der Protagonist William Frederick Kohler ist ein Historiker, der in trüben Gewässern seine Wahrheiten über das Menschengeschlecht sucht: Er ist ein Misanthrop.

Seine Verachtung trifft alle, Juden, Christen, Amerikaner, Deutsche, Gutmenschen, Hassmenschen, Kollegen, Studenten, die eigene Ehefrau. Für jemanden, der eigentlich nur ein Vorwort zu seinem Geschichtsbuch "Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland" schreiben wollte, kommt dieser alternde Mann ganz schön und ausschweifend ins Erzählen, bevor er dann hochsymbolisch zur Schippe greift und sich aus seiner Schreibklause zu graben sucht.

Dieser William Frederick Kohler ist alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse, und das Attribut "unangenehm" betrifft auch die Lektüre, die gleichwohl einen Sog entwickelt. Das aber besonders da, wo nicht die assoziativen Gedankenfetzen den Text dominieren, sondern wo Gass seine Hauptfigur von ihrer Herkunft berichten lässt. Kohler stammt aus einer Familie, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht. Die Mutter ist Alkoholikerin, der Vater kein wirklich liebender, und in der immer weiter sprudelnden Suada braucht man nach dem Ursprung des Hasses nicht zu suchen. Als Zu-kurz-Gekommener, der sich ständig über sein kleines Glied auslässt, projiziert Kohler den Selbstekel auf die ganze Welt.

Wobei Kohler, der deutschstämmige Amerikaner, die Verkommenheit der Menschen persönlich in Augenschein genommen und geschmeckt hat. Als junger Mann verbrachte Kohler Studienjahre in Deutschland. Er fand ein Vorbild, den von ihm "Mad Meg" genannten Philosophie-Professor ("Sein Lächeln ist gezackt wie Glasscherben"), von dem er den Nihilismus lernt.

Er wurde Zeuge des Judenhasses, er schmiss in der Nacht zum 10. November 1938 sogar selbst Steine in die Geschäfte der ausgegrenzten Minderheit. Nach dem Krieg dann wird er zum Nazi-Experten, besonders aber zum Fahnder nach dem Nazi in sich selbst. "Nazi" ist bei Gass, und das enthält in dieser Aufblähung des Begriffs einen Moment der Wahrheit, eine Metapher. Der Faschist ist ein Mensch, der hasst. Wahrscheinlich ist die Figur Kohler am Ende ein Moralist, die enttäuscht ist von der Banalität des Bösen und der Unmöglichkeit des Guten; ihr Überzeugtsein von der Schlechtigkeit des Menschen und der fanatische Versuch, das am eigenen Beispiel zu zeigen, deutet in diese Richtung. "Der Tunnel" ist ein pessimistischer Abgesang auf das Menschengeschlecht. Peinigend und wortgewaltig.

"Ich erinnere mich noch, wie erleichtert ich war, als mein Pflasterstein die Schaufensterscheibe des zweiten Ladens, des Ladens eines Goi, zerschmetterte. Siehst du, sagte ich zu meiner kalten Seele. Was mich angeht, hat es nicht bloß Juden getroffen."

Kann man sich einen unsympathischeren Helden vorstellen? Schwerlich. Manche Rezensenten der späten deutschen Ausgabe fühlen sich angesichts von Kohlers Parteigründung ("Partei der Enttäuschten") an die reaktionäre "Tea Party" erinnert, die derzeit das politische Amerika nach rechts zu schieben versucht. Aber es wäre doch verwunderlich, fände sich bei den frivolen Super-Konservativen jemand, der ähnlich menschenverachtend ist wie Kohler. Den will Gass nicht als sein Alter Ego verstanden wissen - andernfalls wäre der jetzt 87-Jährige schon längst ein Outlaw der Gesellschaft.

Das ist er nie gewesen, im Gegenteil. 1996 erhielt der Schriftsteller für das Werk, an dem er 30 Jahre schrieb, den American Book Award. Dabei war "Der Tunnel" auch damals schon umstritten. Nicht wenige hielten den Roman für unlesbar, was nicht zuletzt an Gass' (selbst erklärter) Unfähigkeit liegt, szenisch zu schreiben. Viel mehr aber noch stieß den Lesern die kalkulierte Provokation auf: Die Entgleisungen des Erzählers haben Methode. Während er mit Dreck um sich wirft, ergötzt er sich nicht nur an seinen mal sprachlich gelungenen, mal ordinären und obszönen Formulierungen, er feiert eine im Grunde tieftraurige Party seiner eigenen Unzulänglichkeit.

Trotzdem oder gerade deswegen ist "Der Tunnel" auch ein stellenweise komisches Buch. Die besten Passagen dieses oft als Beispiel postmoderner Literatur geltenden Werks (der typografischen Elemente des Textes wegen: Er umfasst Embleme und Zeichnungen) sind die literarisch brillanten und bitter gestimmten Jugenderinnerungen, die ohne narrativen Schnickschnack erzählt werden, als hätte es Moderne und Postmoderne nie gegeben: "Von meinem Vater habe ich gelernt, wie man zum Versager wird. Ich habe Bigotterie und Bitterkeit von ihm gelernt."

Über seine unglückliche Kindheit hat Gass in Interviews Auskunft gegeben. Er scheint seiner Figur Kohler viel näher zu sein, als er einen glauben macht. Zu loben ist im Übrigen die Übersetzung Nikolaus Stingls: Er saß Jahre an ihr. Von der Wolllust des englischen Originals geht nichts verloren.