Warum wir Vorbilder nacheifern und wie sie wirken, hat der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in einer großen Studie untersucht.

Hamburg. Im neuen Jahr ist, zumindest für die Dauer einiger (weniger) Tage, vieles Vorsatz. In der Regel haben unsere eilfertig ausgerufenen Bestrebungen Vorbild-Charakter: Wer jetzt aufhört mit dem Rauchen, wer weniger an sich selbst denkt und hilfsbereiter wird, wer dennoch nach Erfolg strebt und sich selbst zu vervollkommnen sucht, ja: der gibt ein gutes Beispiel ab. Vorbilder stellen das dar, was wir sein könnten. Oder das, was wir sein wollen. 2011 war allerdings nicht unbedingt das Jahr der Vorbilder, und so ist es ein bisschen ironisch, dass ausgerechnet jetzt ein voluminöses Buch erscheint, das eben diesen Titel trägt "Vorbilder".

Geschrieben hat es der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Bei der Niederschrift konnte der Autor keineswegs wissen, dass im gerade abgelaufenen Jahr Menschen wie Christian Wulff (Bundespräsident, aktuell) und Karl-Theodor zu Guttenberg (Minister, gewesen) die Idee des vorbildlichen Seins dreist - der eine mehr, der andere weniger - desavouierten. Vielleicht wird Guttenberg nur eine Fußnote der Geschichte bleiben, vielleicht hat er aber den Typus des Pop-Politikers, der windschnittig auf der Oberfläche surft, für immer unmöglich gemacht.

Apropos Pop: Die Gesetze der Showbranche illustrieren ganz gut, um was es geht, wenn die Sprache auf "Vorbilder" kommt. Denn das Vorbildliche kommt meist im Gewand der Prominenz daher - weswegen all diejenigen unter uns Normalbürgern, die für 2012 gute Vorsätze haben und ihnen erfolgreich nachkommen, eher zu denen gehören, die ihren "Ruhm" ganz privat genießen müssen

Darüber hinaus gilt freilich folgende Aussage Machos: "Eine wachsende Zahl von Menschen lebt heute in einer Welt der Vorbilder, der Formen, der Marken und Ideale, die auf Megaplakaten und haushohen Werbeflächen, mit Hilfe von kurzen, atemberaubend schnell geschnittenen Filmen, mithilfe von Jingles und Logos, propagiert werden; der Globalisierungsprozess hat den Ideenhimmel immer weiter ausgespannt - von Europa nach Amerika, nach Asien und Australien, in den Nahen und Fernen Osten."

+++ Supertalent versus The Voice Of Germany +++
+++ Castingshows - Wer hat noch nicht, wer will nochmal? +++

In seiner groß angelegten Untersuchung wirft Macho einen Blick auf unsere Kultur, die in ihrer Ausprägung durch die Massenmedien eine neue Gestalt gewonnen hat. Sie belohnt diejenigen mit Aufmerksamkeit (das höchste Gut in der Konkurrenzgesellschaft), die aus der Masse herausstechen - dank ihres Talents oder ihrer Strategien. Ein gutes Beispiel für den Zauber der Prominenz und das Bemühen, jemanden nachzuahmen, um selbst nachahmenswert zu werden, sind die Castingshows im Fernsehen: Dort singen meist junge Menschen die Hits ihrer Vorbilder nach. Der Gewinner ist am Ende selbst ein Star, ein Vorbild; Casting-Teilnehmer wollen die Seite wechseln.

Machos Analyse des Begriffs "Vorbild" geht in zwei Richtungen: Zum einen meint er das Ideal, das Vollkommene, zum anderen das Vorempfundene: "Vor-Bild" als frühe Version und antizipierender Entwurf einer Erscheinung aus dem Bereich des Dinglichen - oder eines Menschen. Macho begreift das "Vorbild", schwer theoretisierend, als ordnende Kraft. Moderne Lebenswelten werden gerne als chaotische aufgefasst, da braucht es Gegenmittel: "Tatsächlich ist die Moderne ein Zeitalter des Triumphs der Formen und Vorbilder", sagt der Kulturwissenschaftler.

Macho, der 2001 den Hans-Reimers-Preis der Hamburger Aby-Warburg-Stiftung bekam, ist keiner, der an diesem Triumph rütteln will: dass wir uns in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der es freilich auf Erfolg und Misserfolg gründende Hierarchien gibt, darum bemühen, ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erzielen, indem wir uns an vorgegebenen Formen orientieren. Etwa im Körperkult, der sich in den perfekten Maßen eines Topmodels äußert.

Skeptisch ist Macho diesbezüglich nicht; wie überhaupt seine Studie nicht wirklich kulturkritisch ist. "Vorbilder" ist die Arbeit eines in viele Richtungen gebildeten Geistesgeschichtlers, der beobachtet und analysiert - und gern abschweift. Sein Buch ist ein Kompendium, bei dem nicht unbedingt alle Teile ein Ganzes ergeben. Trotzdem kreist Macho immer um sein Thema: wie unsere Gesellschaft über die Installation von Vorbildern und die Sphäre der Prominenz funktioniert.

Besonders erhellend sind die Thesen zu den optischen Verfahren der Gesellschaft. Über die prominenten Vorbilder kommt Macho zur grundsätzlichen Verfasstheit unser "facialen Gesellschaft" ("face" heißt übersetzt bekanntlich Gesicht), in der der "Siegeszug jener Maschinen zur technischen Reproduzierbarkeit" dafür verantwortlich ist, dass Menschen bekannt werden. Medien, so Macho, seien "Gesichterfabriken": Jedes Produkt und jedes Ereignis wird über ein Gesicht verkauft.

Weil unsere Gesellschaft eine menschengemachte ist, überrascht einen bei dieser Argumentation nur die Zuspitzung auf das Erkennungsmerkmal des Gesichts, das seinen Siegeszug nach der Erfindung der Fotografie antrat.

"Vorbilder" sind und haben "Images". Der englische Begriff bedeutet "Bild". Prominente haben ein Image, das sie gewinnen und zerstören können; sie können ihr Gesicht wahren oder verlieren. Vorbild bleiben sie nur, wenn sie sich schadlos halten. Die Geschichten der gefallenen Stars sind Legion. Wir leben in einer visuellen Kultur, in der ihr Scheitern weiträumig abgebildet wird - siehe den Herrn zu Guttenberg.

Das Bild, das wir uns von uns selbst machen, ist übrigens eine alle betreffende Anstrengung: Man möchte sich ja so oder so von den anderen unterscheiden. Deswegen wollen wir raus aus der Masse, eifern besonders in jungen Jahren Vorbildern nach. Wollen selbst berühmt werden. Dabei bringt das doch viele Probleme mit sich, wenn man künftig ein "normales" und ein Vorbild-Ich bewirtschaften muss. Marilyn Monroe weihte einst den Journalisten William J. Weatherby in ihre Malaisen ein: "Ich denke oft, es wäre besser, nicht berühmt zu sein. Aber wir Schauspieler, wir zerbrechen uns ständig den Kopf über unser Bild, unser Image, wir sind - wie sagt man? - narzisstisch."

Thomas Macho: "Vorbilder". Wilhelm-Fink-Verlag. 460 S., 39,90 Euro