Bei Ballett-Intendant John Neumeier zu tanzen bedeutet Knochenarbeit bis zum Glück der Perfektion. Yuko Oishi kennt das.

Hamburg. Wenn John Neumeier am Sonntag mit seinen japanisch inspirierten "Fließenden Welten" die 36. Ballett-Tage eröffnet, haben viele Hamburger eine Tänzerin schon oft gesehen, auf dem Plakat: Da tanzt Yuka Oishi, 26, mit langem Pferdeschwanz in einem kimonoartigen Kostüm; das Motiv erinnert an einen kostbaren japanischen Paravent.

Vor zehn Jahren kam Yuka nach Hamburg, Ballettmeister Kevin Haigen hatte das Mädchen aus Osaka bei einem Sommerkursus in England entdeckt. Da tanzte Yuka schon zwölf Jahre lang. Von John Neumeier wusste sie nichts, bis sie vortanzte und seinen "Sommernachtstraum" sah. Und erst mal ein Taschentuch brauchte, so überwältigt war sie von der hoch emotionalen, perfekten Performance. "Das will ich auch machen", dachte sie. Manchmal werden Träume wahr - sie wurde in die Ballettschule aufgenommen und gehört seit 2002 zum Ensemble. Am Sonntag ist sie nicht nur Gruppentänzerin, sondern hat kleine Rollen in "Seasons - The Colors of Time" - und tanzt in "Seven Haiku of the Moon", sehr passend zu ihrer zierlichen Figur, eine Pflaumenblüte.

Auch Pflaumenblüten müssen trainieren. Sechsmal pro Woche beginnt jeder Tänzer-Arbeitstag um zehn Uhr an der Stange im Ballettzentrum an der Caspar-Voght-Straße. Plié. Tendu. Jeté. "Wake-up-Call für die Füße" nennt Violette Verdy das. Von 1958 bis 1976 war sie legendäre Tänzerin im New York City Ballet, zurzeit leitet sie als Gast mit ihrem in 77 Jahren gewachsenen Charme die Exercises. Zum Aufwärmen, damit der Körper, die Hochleistungsausdrucksmaschine, bereit ist für die Proben. Es geht aber auch um Präzision und schiere Kraft. Ab 11.30 Uhr wird geprobt; in vier Sälen: für die Premiere, fürs Repertoire, für die Nijinsky-Gala am Ende der Ballett-Tage. Bis 13.30 Uhr, und am Nachmittag noch einmal, wenn abends keine Vorstellung ist.

Die "Fließenden Welten" stehen seit Ende April auf dem Probenplan und begannen wie alle neuen Stücke als Puzzle. Fünf Minuten vom Ende, zehn aus der Mitte - so wie die Tänzer zur Verfügung stehen, nicht vom Anfang zum Ende. Acht Tage vor der Premiere werden die Puzzle-Teile erstmals zusammengefügt.

Ballettproben sind Knochenarbeit und Wiederholung - fünfmal, achtmal, zehnmal. Das geht in die Beine bei Sprüngen, in die Arme bei Hebefiguren. Erklärt werden die Schritte von Victor Hughes, Ballettmeister und Neumeiers Assistent, als der die Choreografien für das Tokyo Ballet schuf. Seine Notizen und Videos aus Tokio sind die Basis für das Hamburg Ballett. Die Stücke nehmen die Zuschauer mit auf eine Traumreise in japanische Gedankenwelten, zu den assoziationstiefen Haiku-Kurzgedichten und in den Kreislauf des Werdens und Vergehens von Natur und Seele.

"Es geht um Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit, um die Idee, ins Große und Ganze des Universums einzutauchen", sagt Yuka Oishi. "Das ist typisch japanisch. Neumeier versteht unsere Seele sehr gut."

Im Probensaal versammelt sie sich mit den anderen immer wieder um das Video, sie saugen alle Nuancen auf. Yuka Oishi sagt: "Der Kopf muss die Bewegungen verstehen, aber der Körper muss sie lernen, sie müssen in Fleisch und Blut übergehen. Dann kommen die Emotionen, an denen feilt John Neumeier mit uns." Man weiß nicht, wer die gnadenloseren Kritiker sind: die eigenen Augen, die auf die große Spiegelwand blicken, oder die Ballettmeister und John Neumeier direkt vor ihnen.

Anstrengung, Willenskraft, Schweiß dominieren, für Sekunden auch mal Verzweiflung: Wie werden die eigenen Bewegungen absolut synchron mit denen der anderen? Wie speichert man einen vertrackten Übergang? Wie überlebt man die ganz strengen Blicke von vorn? Es gibt aber auch das gemeinsame Lachen, in dem sich die Anspannung entlädt. Und dann am Ende das Glück - wenn der Körper gelernt hat.

Yuka Oishi sind die Überlegungen von Choreografen nicht fremd: Sie choreografiert selbst und erntete gerade in der letzten Ballettwerkstatt mit "Sazanami" wieder großen Applaus.

Zweieinhalb Wochen vor der Premiere zieht das Ballett auf die große Bühne der Staatsoper um, wo Bühnentechnik, Kulissen und Beleuchtung mitspielen lernen. Am Montag vor der Premiere kommen die Kostüme dazu. Die "Maske" sorgt für Bühnenfrisur und Make-up. Yukas langes Haar wird seitlich streng gescheitelt und zu einem Knoten gebunden. Das verschlingt ein Dutzend Haarnadeln, damit bei wilderen Bewegungen alles in Form bleibt.

Im Waschraum neben der Damengarderobe werden noch schnell neue Ballettschuhe (sie sind nach zwei bis drei Tagen durchgetanzt) auf Hautfarbe "geschminkt". Dann zieht Yuka ihr rotes, weit schwingendes Kleid an und wird wirklich zur Pflaumenblüte. Katastrophe: Es schlackert, die Träger sind viel zu lang. Aufatmen: Sie gehören über Kreuz, plötzlich sitzt alles wie angegossen. Für die Tänzerinnen bedeutet die Prozedur vor allem: zwei Stunden vor Probenbeginn vor Ort sein.

Im Zuschauerraum sitzt in Reihe 12 am Regiepult John Neumeier, jetzt in unnahbarer Distanz, eine Stimme aus dem Dunkel. Und die Ballettmeister. Ab jetzt steht nur noch der Beginn der Proben fest - sie dauern so lange, bis sich Geist und Bewegung zum vollendeten Tanzereignis verbinden. Bei Opern findet die Generalprobe zwei Tage vor der Premiere statt, damit sich die Stimmen erholen können. Für die Ballett-Premiere am Sonntag geht die Generalprobe erst am Sonnabendmittag über die Bühne. So bleiben die Körper im Training.

Am Sonntag um 18 Uhr hebt sich der Vorhang für Neumeiers "Fließende Welten". Wie immer wird der Ballett-Intendant erst kurz vorher auf seinen Platz huschen: ganz vorne rechts, Reihe 1, Platz 1. Um beim Schlussapplaus sofort wieder zu seinen Tänzern zu verschwinden. Die haben sich dann schwerelos, kraftvoll, präzise, synchron, einzigartig und anrührend durch Haikus, die Jahreszeiten und alle Spielarten menschlicher Gefühle getanzt. Yuka Oishi war mittendrin, eine zarte japanische Pflaumenblüte im schwülen Hamburger Frühsommer.

Fließende Welten Premiere So 18.00 Uhr, Staatsoper (Restkarten). Weitere Vorstellungen: 15. und 24. Juni, 19.30 Uhr