Hamburg. Wie oft sich das Hamburger Abendblatt im Lauf seiner mehr als 60-jährigen Geschichte neu erfunden hat, ist nicht einmal in den Archiven der Axel Springer AG dokumentiert. Schon zum Start reklamierte Verlagsgründer Axel Springer für sich, einen völlig neuen Typus Zeitung geschaffen zu haben. Er wollte in den Nachkriegsjahren weg von dem damals in Hamburg vorherrschenden Journalismus, bei dem jede Zeitung von einer der politischen Parteien finanziert und geprägt wurde. "Unabhängig, überparteilich" steht deshalb auf der Titelseite des ersten Abendblatts, von dem am 14. Oktober 1948 in nur vier Stunden alle 60 000 Exemplare verkauft wurden.

Axel Springer hat das Gesicht seiner neuen Zeitung (Arbeitstitel: "Excelsior") selbst entworfen, zusammen mit einigen Beratern und Experten. Er klebt selbst Musterseiten zusammen, testet verschiedene Schrifttypen, prüft Entwürfe für den Zeitungskopf, lässt für den Schriftzug "Hamburger Abendblatt" eine vorhandene Schrift - "Klingspor gotisch" modifizieren, die bis heute ihren Platz im Titelkopf hat. Das Hamburg-Wappen im Titelkopf ist die Abwandlung eines der ältesten erhaltenen Stadtsiegel, das Motto "Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen" borgt sich Springer von Gorch Fock. Die neue Zeitung hat einen sechsspaltigen Umbruch; sie wirkt anfangs stark textlastig; nur auf der letzten Seite ("Die Bilderseite") springen viele schwarz-weiße Nachrichtenfotos ins Auge.

Auf acht Seiten - anfänglich übrigens nur am Montag, Mittwoch und Sonnabend, das Papier ist knapp - gibt es vorn die große Politik, dann folgen die "Meinungsseite" und die "Hamburg-Seite", eineinhalb Anzeigenseiten und - nur - eine halbe Seite Sport. Nicht besser geht es dem Feuilleton, das sich eine Seite mit der Unterhaltung teilt. "Volkswirtschaft/Weltwirtschaft" heißt der einseitige Wirtschaftsteil vor dem bebilderten Abschluss.

Gleich auf der ersten Seite verankert der junge Verleger ein Grundelement seiner neuen Zeitungsphilosophie. "Menschlich gesehen" porträtiert jeden Tag einen Bürger oder Gast der Stadt oder einen Menschen, über den gerade gesprochen wird. Springer will eine Zeitung, die die Menschen menschlich anspricht, sie in ihrer privaten Sphäre versteht. Mit Nachrichten, die den Leser nah angehen. Das ist das Revolutionäre am Abendblatt - die ständige Frage: Was bedeutet diese Nachricht für Hamburg und die Menschen in dieser Stadt? Springer treibt seine Redakteure ständig an: Was bewegt unsere Leser? Die Antwort gibt er gleich selbst: Sie wollen lesen, was in ihrer Umgebung passiert. Man müsse nur genug Verstand, Wirklichkeitsnähe und Herz haben. Er geht in seinen legendären und häufigen Blattkritiken anhand vieler kleiner Zettel, die er aus den Hosentaschen zaubert, bis ins kleinste Detail. Und gibt als Richtung an: "Wir wollen den Lesern wohltun." Dafür belächelt ihn die Konkurrenz, doch Springers Konzept geht auf - nach einem Jahr hat das Abendblatt schon 120 000 Abonnenten; die Auflage steigt rasch weiter bis auf deutlich mehr als 300 000 Exemplare.

Das Hamburger Abendblatt probiert immer wieder Neues aus: 1954 eine Sonntagausgabe, in den 50er-Jahren Tiefdruckbeilagen für große, damals noch seltene Farbfotos, aus denen zwei Jahre später die bundesweit erscheinende "Bild am Sonntag" entwickelt wird. 1964 eine Schifffahrtsausgabe, die an deutsche Schiffe auf den Weltmeeren gefunkt wird. Schon 1961 hat das Abendblatt als erste Zeitung auf dem europäischen Kontinent ein Farbfoto auf der Titelseite gedruckt, 1964 das erste gefunkte aktuelle Farbfoto. Thematische Seiten für Hochschule, Umwelt, Medizin werden neu entwickelt - heute zusammengefasst in der täglichen Seite "Wissen". Ein farbiges Wochenend-Journal entsteht - heute heißt es "magazin", 1995 erfindet die Redaktion "Hamburg LIVE", Veranstaltungskalender und Stadtmagazin für eine ganze Woche. Und 1984 geht das Abendblatt online, zuerst zaghaft als "Bildschirmtext", im Oktober 1996 dann mit abendblatt.de, dem mehrmals täglich aktualisierten Internetangebot.

Optisch und in der Reihenfolge sowie Zusammenstellung seiner Seiten hat sich das Hamburger Abendblatt immer wieder verändert. Im Februar 1949 antwortet Axel Springer einem Leser: Das Abendblatt sei "in der Gestaltung und im Inhalt ruhiger geworden" - man nehme jetzt weniger auf die Erfordernisse des Straßenverkaufs Rücksicht als in den Anfangstagen.

In den Jahren danach gibt es neue Seiten, Rubriken, Themen, neue Druckmöglichkeiten; es wachsen neue ästhetische Ansprüche, ein verändertes Marktumfeld sorgt fürs Umdenken. Die Zeitung ist nicht mehr Konkurrent des Fernsehens um die schnellste Nachricht - die kommt ohnehin elektronisch zum Leser. Größtmögliche Vielfalt an kurzen Nachrichtentexten kann auch nicht mehr Leitgedanke sein, stattdessen ist im Online-Zeitalter für die gedruckten Nachrichtenträger ein ruhigeres Aussehen gefragt. Das Hamburger Abendblatt bringt seriös aufbereiteten Hintergrund, es braucht keine übergroßen Fotos als Blickfang und setzt lieber auf ausführlicheren Text. Seine Struktur will den Lesern weit entgegenkommen: Es gibt jetzt feste Plätze für alle Ressorts und Elemente. Auch die Gewichtung der Ressorts hat sich geändert: Die Kulturseiten kommen in einem eigenen "Buch" in direkter Folge, immer mit der "Wissen"-Seite als Abschluss; Wirtschaft und Sport teilen sich das letzte Buch. Und die wieder eingeführte Meinungsseite steht exakt da, wo Axel Springer sie schon im allerersten Abendblatt platziert hatte: auf Seite 2.

In allen Seitenköpfen wird die Verzahnung mit dem Online-Teil der Marke Abendblatt gepflegt: Hinweis auf die weiterführenden oder exklusiven Angebote von abendblatt.de.

Für das gedruckte Abendblatt hat das Team um Zeitungsdesigner Dirk Merbach eine neue moderne Schrift für das Abendblatt gefunden; sie heißt "Chronicle"; sie ist bestens lesbar und verbindet die Wärme alter und die einfache Eleganz neuer Zeitungsschriften. Auch die traditionelle "Klingspor gotisch" im Zeitungskopf wurde in Zusammenarbeit mit dem Linotype-Schriftdesigner Milo Ivir weiter modifiziert, sie kommt nun etwas gerundeter und mit weniger Ecken und Kanten daher; das Wappen zwischen "Hamburger" und "Abendblatt" wurde komplett überarbeitet und wirkt nun leichter und eleganter.

Die Zeitungsseiten sind zum sechsspaltigen Layout der ersten Stunde zurückgekehrt, das vom Abendblatt immer mal wieder für einige Jahre verlassen worden war, wegen seiner seriösen, ruhigen Ausstrahlung aber kaum Alternativen hat. "Aufgeräumter, unaufgeregter, seriöser" - so wirkte das neue Layout bei denen, die es vorab schon mal studieren durften. Das Gerüst steht, und jetzt ist die Redaktion wieder Tag für Tag gemeinsam mit den Gestaltungsexperten am Zug. Ihr Ziel? Auch das hat Axel Springer seinen Redakteuren gegenüber schon in den Anfangstagen seines Hamburger Abendblatts formuliert: "Machen Sie die beste Lokalzeitung, die es in Deutschland gibt. Und wenn das nicht reicht: Machen Sie die beste Lokalzeitung der Welt!"