“Der Jesusknabe“ von Max Liebermann wurde als hässlicher, naseweiser Juden-Junge verunglimpft. Jetzt zeigt die Kunsthalle seine Geschichte.

Hamburg. Nach dem Passahfest kehrt die Familie nach Nazareth zurück, doch der zwölfjährige Jesus ist - anders als Maria und Josef annehmen - auf dem Rückweg nicht mit Gleichaltrigen unterwegs, sondern unauffindbar. Voller Sorge kehren die Eltern nach Jerusalem zurück und finden ihren minderjährigen Sohn dort im lebhaften theologischen Disput mit den Schriftgelehrten im Tempel, der Elite des jüdischen Volkes.

Die berühmte Geschichte des intellektuell frühreifen Zwölfjährigen, die im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums erzählt wird, ist ein besonders beliebtes Thema der christlichen Ikonografie, das schon in mittelalterlichen Glasmalereien, auf Holzschnitten von Dürer, Radierungen von Rembrandt oder auf römischen Barockaltären dargestellt wurde. Im Jahr 1879 wählte auch Max Liebermann dieses Motiv für ein Gemälde, an dem sich noch im selben Jahr ein großer Skandal entzündete. Das Bild, das zu Liebermanns Hauptwerken zählt, steht jetzt im Mittelpunkt einer nicht nur kunstgeschichtlich, sondern auch kulturhistorisch interessanten Ausstellung, die die Kunsthalle unter dem Titel "Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik" im und vor dem Saal der Meisterzeichnung präsentiert.

Anders als die Historienmaler des 19. Jahrhunderts hat sich Liebermann um eine realistische Darstellung bemüht, hat das Thema in die Gegenwart geholt. Skizzenblätter zeigen, dass ihm die Interieurs von Synagogen in Amsterdam und Venedig als Vorbild dienten. Als Modell für den Jesusknaben entschied er sich für einen hübschen italienischen Jungen. Im Zentrum des Bildes steht er, schräg von hinten zu sehen, im lebhaften Austausch mit den Schriftgelehrten, die Hände gestikulierend vor der Brust. Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe. "Der assimilierte Jude Liebermann betrachtete das als Statement für einen gleichberechtigten Dialog der Religionen", meint Ausstellungskuratorin Ute Haug.

Als das Bild 1879 auf einer Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast präsentiert wurde, hagelte es Kritik, in der nicht nur stilistische Vorbehalte, sondern vor allem antisemitische Ressentiments zum Ausdruck kamen.

Die Modernität der Darstellungsweise, die sich radikal von der damals üblichen, formelhaften christlichen Historienmalerei unterschied, wurde als rohe und triviale Entweihung und Versimpelung empfunden. Friedrich Pecht, damals einer der einflussreichsten Kunstkritiker, bezeichnete in der "Allgemeinen Zeitung" Liebermanns Christus als "den hässlichsten naseweisen Juden-Jungen, den man sich denken kann" und die Rabbiner als "ein Pack der schmierigsten Schacherjuden". Ein katholischer Kritiker nahm Liebermann direkt als Person ins Visier und prangerte an, "dass ein Jude gewagt hat, seinen christlichen Mitbürgern solche Verhöhnung ihres Heilands öffentlich ins Gesicht zu schleudern".

Es war keineswegs Liebermanns Absicht gewesen, mit diesem Bild zu provozieren. Umso unerwarteter traf ihn die massive Kritik. Später sah er sich sogar bemüßigt, einige besonders heftig monierte Details zu ändern, so verpasste er dem ursprünglich barfüßigen Jesus nachträglich Sandalen und veränderte seine Haarfarbe von Rot, das als "typisch jüdisch" galt, in Blond.

Als Alfred Lichtwark das Gemälde 1911 für damals 60 000 Reichsmark für die Hamburger Kunsthalle erwarb, hatten sich die Zeiten geändert. Liebermann war längst als großer Künstler anerkannt. Das Bild, das mit anderen Neuerwerbungen 1912 in Hamburg erstmals ausgestellt wurde, erhielt einen Ehrenplatz, wo Kunstfreunde es beinahe mit Andacht bewunderten. Bis 1935 war das Liebermann-Gemälde in der Kunsthalle zu sehen, dann fiel es der Nazi-Kulturpolitik zum Opfer, wurde als "entartet" deklariert und 1941 verkauft.

Erst 1979 konnte Liebermanns "Zwölfjähriger Jesus" als Leihgabe in die Kunsthalle zurückkehren. Mithilfe der Campeschen Historischen Kunststiftung und der Kulturstiftung der Länder wurde das Gemälde 1989 schließlich zum zweiten Mal für die Hamburger Kunsthalle gekauft. Heutigen Betrachtern fällt es schwer, die Kontroverse zu verstehen, die dieses Meisterwerk Ende des 19. Jahrhunderts ausgelöst hat. Umso wichtiger sind die kulturhistorischen Informationen, die die klug konzipierte Ausstellung vermittelt.

Hamburger Kunsthalle, 18.4.-18.7., Di-So 10-18, Do bis 21 Uhr