Die Bräutigamseiche im Dodauer Forst bei Eutin ist die ungewöhnlichste Postadresse der Welt. Fast täglich treffen dort Briefe von Menschen für Menschen ein, die einen Partner suchen. Und manches Paar fand sich schon auf diesem Weg. Antje Windmann über eine Singlebörse, die auch im Internetzeitalter ein Glücksfall bleibt.

Christa, 52, w, aus Bayern, hat sich für eine hellblaue Karte entschieden. Sie hat sie mit Aufklebern verziert, Blumen und Osterhasen, und in einen Umschlag gesteckt. "Allen, die diese Karte lesen, wünsche ich ein schönes, sonniges und gemütliches Wochenende", hat sie mit blauem Filzstift geschrieben, ihre Schrift ist großzügig, geschwungen.

Vielleicht sucht die unbekannte Frau nur eine Brieffreundschaft, könnte man angesichts der neutralen Formulierung denken. Doch das kleine "w", das Christa hinter ihrem Alter vermerkt hat, deutet auf etwas anderes hin, genauso wie die 55-Cent-Briefmarken mit den dunkelroten Rosen auf dem Umschlag. Obwohl es nur ein Standardbrief ist, hat Christa ihn gleich mit zwei Marken frankiert. So, als wolle sie ganz sichergehen, dass er ankommt.

Christa hat an einen Baum geschrieben.

Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage in diesem Jahr, als ihre Karte ankommt. Die Sonne zeigt, dass sie schon Kraft hat, die grauen, kalten Tage sind vergessen. Ein leichter Wind geht durch den Dodauer Forst, einen Buchenwald, gelegen an der B 76 zwischen Eutin und Plön.

Es ist kurz nach 14 Uhr, als sich eine Szene abspielt, die seltsam schräg wirkt: Ein Postbote, blaue Hose, blau-gelbe Jacke, Postmütze, kommt durch den Wald gestapft. Man sieht ihn nur, der weiche Waldboden dämpft jeden seiner Schritte.

Als sei es das Gewöhnlichste der Welt, geht er auf eine große Eiche zu, klettert die darangelehnte Leiter hoch und steckt ein paar Briefe in ein faustgroßes Astloch. Dann klettert er die acht Sprossen wieder herunter, steigt in sein Postauto und macht sich auf zum nächsten Briefkasten.

Statt eines Übertragungswagens mit "Verstehen Sie Spaß"-Logo fährt kurz danach ein dunkelblauer Passat auf den nahe gelegenen Parkplatz. "OH" steht auf dem Nummernschild, Ost-Holstein. Zwei Männer um die 50 steigen aus. Sie tragen graue Stoffhosen und Lederblousons, darin wirken sie wie Prototypen eines Junggesellen. Sie gehen ebenfalls direkt auf die Eiche zu.

Als sie bemerken, dass sie nicht allein sind, dass auf einer Bank Menschen sitzen, laufen sie um den Baum herum, einmal, zweimal. Beim dritten Mal klettert einer der Männer die Leiter hoch, holt die Briefe heraus. Sie setzen sich kurz, überfliegen den Inhalt, zucken mit den Achseln, stecken die Briefe wieder in das Astloch und fahren weg.

Karl Heinz Martens wundert sich über all das gar nicht. 37 Jahre lang war Martens Landzusteller bei "Postens", wie er sagt, davon 18 Jahre der Liebesbote der Bräutigamseiche. Diesen Job macht jetzt sein junger Kollege, der just die Briefe brachte; die beiden haben sich freundlich gegrüßt. "Oft haben die Leute hinter den Bäumen auf mich gelauert", sagt der 65-Jährige und grinst. Besonders jetzt, im Frühling, wenn die meisten Briefe kommen, sei der Andrang immer groß gewesen. "Im Frühling wollen sich doch alle verlieben", sagt er.

Karl Heinz Martens, bekleidet mit Strickjacke und Jeans, sitzt auf einer der Bänke, die im Halbkreis um den Baum aufgestellt sind. Keiner kennt die Eiche so gut wie er. Den Baum, den alle Bräutigamseiche nennen, dem Menschen aus dem ganzen Land, der ganzen Welt schreiben, in der Hoffnung, über ihn die große Liebe zu finden. Und das im iPad-Jahr 2010.

Dabei ist es scheinbar so einfach: Im Internet tummeln sich Millionen Singles, denen im Alltag in der S-Bahn, an der Käsetheke oder beim Raclette bei Freunden die Liebe noch nicht begegnet ist. Eine E-Mail, ein Klick und "Kobold 2005", "Elvis 2010" oder auch "Agent Purple" kann mit einer "Knuddelmaus", "Mokkablondie" oder "Tollkirsche1000" chatten, wie es so schön heißt. Ganz easy, ohne eine Karte zu basteln.

Die Geschichte über die 500 Jahre alte Bräutigamseiche entschleunigt das alles; vielleicht berührt sie gerade deshalb so sehr und zieht die Menschen in ihren Bann.

Karl Heinz Martens, der ehemalige Liebesbote, studiert die Furchen ihres fünf Meter dicken Stammes, in dem das Astloch, der Briefkasten, wie eine zu groß geratene Pore wirkt. Er blickt in den korallenartigen Wipfel des Baumes. Noch sind die Zweige kahl, wirken fast zornig, in wenigen Wochen wird der Baum sein grünes Blätterdach ausbreiten. "Dann ist das hier Romantik pur", sagt er.

Er deutet auf eine Infotafel, etwas abseits hat sie jemand aufgestellt. Den Text habe er geschrieben, erzählt Karl Heinz Martens. Die Legende der Bräutigamseiche geht zurück auf eine verbotene Liebe und ist schnell erzählt: Eine Försterstochter aus der Gegend hatte sich in einen Leipziger Schokoladenfabrikanten verliebt. Weil ihr Vater gegen die Verbindung war, spielten sich die beiden heimlich Briefe zu, die sie ins Astloch der Eiche legten. Am 2. Juni 1891 heirateten sie dann doch, mit der Einwilligung des Vaters, unter dem Baum. Als immer mehr Einheimische Briefe für die Eiche abgaben, stellte man 1927 eine Leiter hin, damit jeder seinen Brief einwerfen konnte. Kurz darauf erhielt die Eiche als einziger Baum weltweit eine eigene Postleitzahl, sodass Menschen von weiter weg schreiben konnten. Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin, lautet die aktuelle Adresse. Sie stand auch auf dem hellblauen Umschlag mit der selbst gebastelten Karte von Christa aus Bayern.

"Im Schnitt kommen etwa drei Briefe pro Tag, also gut 1000 im Jahr", sagt Martin Gründler, Sprecher der Deutschen Post. Die Tage, an denen mal kein Brief für die Eiche dabei war, könne er an einer Hand abzählen, sagt Karl Heinz Martens. "Und am nächsten Tag waren die Briefe immer weg."

Er selbst wisse von fünf Ehen, die mithilfe der Bräutigamseiche geschlossen worden sind, erzählt er und lächelt vielsagend.

Denn auch ihm brachte der Liebesbaum Glück, völlig unvermutet. Vor 21 Jahren trug der damals alleinstehende Karl Heinz Martens einen Brief an sich selbst aus. Eine Frau aus dem Saarland hatte ihn in einem TV-Beitrag gesehen. "An den Postboten der Bräutigamseiche" stand auf einem Umschlag, darin lag eine Visitenkarte mit ihrer Anschrift. Auf der Rückseite stand: "Ich möchte Sie gerne kennenlernen. Sie sind mein Typ. Auch ich bin im Moment allein." Man telefonierte ein paar Mal, dann, eines Tages, packte Karl Heinz Martens seinen Hund ins Auto und fuhr ins Saarland, inzwischen sind Karl Heinz und Renate Martens seit 15 Jahren verheiratet.

Die Menschen, die die Leiter an der Eiche hinaufklettern, erfüllt das gleiche Gefühl wie die Menschen, die die Briefe an sie schreiben: Sehnsucht. Und genau sie lässt Menschen eben manchmal merkwürdige Dinge tun, um dem Zufall oder Schicksal, wie es andere nennen, nachzuhelfen.

"Es ist so gedacht", erklärt Karl Heinz Martens, "dass sich jeder die Briefe durchlesen kann, aber nur den mitnimmt, von dem ihn der Absender interessiert." Jeder, der an die Bräutigamseiche schreibt, gibt sich zu erkennen, weil er ja auf Antwort hofft, das Postgeheimnis ist aufgehoben.

Häufig finden sich unter den Absendern Menschen mittleren Alters, die sich ein zweites Liebesglück wünschen. Verwitwete und Geschiedene, die auf ein Zeichen des Himmels hoffen. Im Jahr 2008 wurden zehn von 1000 bestehenden Ehen geschieden, insgesamt 191 900, die Zahl stieg um drei Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die meisten Menschen erfahren durch kleine Berichte in Ausflugsratgebern der Region Ostholstein von der Bräutigamseiche. Als die Geschichte des Baumes Eingang in das Deutsch-Lehrbuch des Goethe-Instituts fand, erreichten die Eiche auch Briefe aus Afrika, Argentinien, Japan und China. So schrieb schon am 10. Juni 1987 ein chinesischer Student. Liu Shi sei sein Name, er komme aus Shijiazhuang und suche ein deutsches Mädchen, das sich über einen chinesischen Freund freuen würde. Karl Heinz Martens hütet eine Kopie des Briefes in einem blauen Ordner bei sich zu Hause.

Friedrich Christiansen fand 1988 einen Brief von Claudia aus Salzungen im Erzgebirge, damals noch DDR, in der Bräutigamseiche. Hätte es damals das Format "Bauer sucht Frau" schon gegeben, wäre der Sohn eines Landwirts, damals 36 Jahre alt, sicher ein perfekter Kandidat gewesen. Schon auf den Landjugendbällen sei er nie fündig geworden, erinnert sich der gelernte Landmaschinentechniker aus Malente, deshalb habe er immer mal wieder ins Astloch geguckt. Vom Liebesbaum hatte ihm seine Mutter berichtet.

Claudia, damals 19 Jahre alt, hatte im West-Fernsehen einen Bericht über die Bräutigamseiche gesehen. "Am Ende wurde die Adresse von dem Baum eingeblendet. Ich dachte, ich versuche es mal." Dass sie über den Baum ihren künftigen Ehemann kennenlernen würde, im Leben hätte sie nicht damit gerechnet.

"Ich mochte ihre Handschrift", sagt Friedrich Christiansen. Im ersten Brief an Claudia schrieb er, dass er sich als Erstes eine Landkarte gekauft habe, um zu schauen, wo Salzungen überhaupt liegt. Ein halbes Jahr später machte er sich mit dieser auf, um die junge Krankenschwester zu besuchen. Um die Einreiseprozedur zu vereinfachen, gab er sich als ihr Cousin aus. "Ich fand sie gleich gut. Sie hatte ein Mofa, war nicht so eine Tussi, war eher ländlich wie ich", sagt er und lacht. "Für mich war er nur ein Brieffreund, West-Besuch eben", sagt Claudia. "Erst mal."

Im Sommer 1989 verlobten sich die beiden, im Mai 1990 heirateten sie, die gemeinsame Tochter macht jetzt Abitur. "Alles dank der Eiche", sagt Friedrich Christiansen. Inzwischen denken er und seine Frau darüber nach, ihre Silberhochzeit unter dem Baum zu feiern.

Doch nicht nur Frauen, auch Männer schreiben an die Bräutigamseiche. Mit der hellblauen Karte der unbekannten Christa landete auch ein Brief von Michael aus Nordrhein-Westfalen an diesem Tag in dem Baum-Briefkasten. "Hallo Du (Unbekannte), diesen Brief schreibe ich an Dich, obwohl es Dich vielleicht gar nicht gibt ..." So beginnt er seinen Brief. Eine DIN-A4-Seite, beiges Papier, hat er dicht beschrieben, mit blauer Tinte. In zwei Wochen werde er 40 Jahre alt, steht dort. Dann erzählt er, dass er im Büro arbeitet, gern Fahrrad fährt und Musik hört, Beatles. Er wünscht sich eine Frau mit Fantasie, altmodisch, aber magisch. Zwischen den Zeilen wird deutlich, wie einsam dieser Mensch sein muss, wie satt er das Ich-Dasein hat und wie groß seine Hoffnung auf ein "Wir" ist. Er hat sich für eine Briefmarke mit Leuchtturm entschieden und alle Möglichkeiten aufgelistet, wie man ihn kontaktierten kann.

Es ist kurz nach drei im Dodauer Forst. Der Postbote ist schon eine Weile weg, die Männer in den Lederblousons auch. Ein Opel fährt vor. Ein Mann in Jeans und dunkelblauem Hemd steigt aus. Seine grauen Haare sind ordentlich gekämmt, er selbst wirkt verlegen. Auf dem Weg zur Arbeit schaue er ab und zu mal an der Bräutigamseiche vorbei, erzählt er. Ein paar Mal habe er schon über die Baumpost Frauen kennengelernt, leider sei bislang nichts daraus geworden, bedauert er. Man habe ein paar Mal telefoniert, dann sei der Kontakt wieder eingeschlafen. Ob er dennoch an die große Liebe glaubt? "Ist nicht alles im Leben Zufall?", fragt er zurück, zuckt mit den Achseln. Dann geht er den kleinen Weg über den weichen Waldboden zur Eiche. Kurz darauf kommt er zurück. Er hebt die Hand zum Abschied, aus seiner Hemdtasche lugt etwas Hellblaues. Christas Karte.