Mit klugem Konzept und starken Konzerten etablieren sich die “Ostertöne“ der Simone Young. Nur das Festival-Fluidum fehlt noch.

Hamburg. Draußen verbreiten die Osterfeuer von der Elbe beißende Luft. Drinnen, im Vorraum von St. Katharinen, riecht es nach Fisch: Es gibt Suppe mit Lachs und Matjesschnitten. Das ist die kulinarische Einstimmung auf das visuelle Hauptwerk des Abends - in Ergänzung zum musikalischen Programm, das sonst in der Laeiszhalle stattfindet, zeigen die "Ostertöne" Ingmar Bergmans "Das siebente Siegel" in der Kirche. Eine schlüssige Idee der Dramaturgin Katrin Zagrosek, denn der religiös inspirierte Film über die Frage nach dem Sinn des Lebens hat den "Composer in residence" Mark Andre schon in jungen Jahren fasziniert und einige seiner Werke angeregt. Sein Trio "...als..." soll jetzt vor der Filmvorführung erklingen.

Musik zwischen Brahms und der Moderne bildete auch diesmal wieder die dramaturgische Leitidee der "Ostertöne", die bei gegenüber dem Vorjahr etwa gleichbleibendem Publikumszuspruch von Karfreitag bis gestern Abend ein klug ausgewähltes Programm boten.

Der Kerzenschein im Mittelgang von St. Katharinen taucht das Hauptschiff in ein stimmungsvolles Licht - selbst die Baugerüste fügen sich bruchlos ins Gesamtbild. Nur vorne am Flügel, links neben der Säule und rechts oben auf der Kanzel glimmen die elektrischen Lichtpunkte der drei Pultleuchten. Von dort tasten sich musikalische Klänge in die Stille: Erst ein dumpfes Klopfen des Klaviers, dann schabende Streichgeräusche vom Cello. Und schließlich säuselt, winselt und schnaubt die Bassklarinette. Viel mehr Töne oder gar Themen gibt es nicht in den sparsamen, ausgetüftelten Klangkondensaten von Mark Andre: Mit protestantischer Strenge reduziert er die Musik auf ihre Essenz. Interpreten wie Hörern gibt er viel Verantwortung für diese zerbrechlichen Gebilde, die schon von einem ungebremsten Husten kaputt gebellt werden könnten.

Aber es funktioniert. Andres Trio erfüllt den Raum mit einer feinnervigen, atmosphärisch dichten Spannung - und sensibilisiert die Sinne für Bergmans Film aus dem Jahr 1957, der nach der musikalischen Reinigungskur eine umso stärkere Wirkung entfaltet. Mit einer düster-expressiven, mitunter an die Stummfilmzeit erinnernden Bildsprache erzählt er eine existenzielle Parabel: Der Ritter Antonius Blok kehrt müde in sein von der Pest gezeichnetes Land zurück und beginnt ein Schachspiel gegen den Tod, um für die Dauer einer Partie nach Gott suchen zu dürfen. Ein eindrückliches Erlebnis. Ärgerlich nur, dass der Abspann schroff abgewürgt und sofort mit Musikbeschallung vom Band konterkariert wird. Eigentlich herrscht doch laut Johannes-Offenbarung "eine große Stille", als das Lamm das siebente Siegel bricht.

Einen denkbar starken Kontrast zum Geist des Filmkonzerts brachte der Pianist Boris Berezovsky einige Stunden zuvor in die Laeiszhalle. Zwar wäre es falsch, ihn um des Wortspiels willen als Berserker zu bezeichnen - aber er beeindruckt vor allem durch seine urgewaltige Kraft. Das wirkte im Kopfsatz der Brahms-Sonate op. 5 mitunter fast brachial, doch zeigte er auch ganz zarte und lyrische Töne. Bei den transzendentalen Etüden von Liszt war der Russe mit den Riesenpranken dann vollends in seinem Element - und meißelte die Abertausend Noten mit atemberaubender Virtuosität und Wucht in die Tasten, sodass der Kleine Saal in seinen Grundfesten erzitterte.

Das war fast schon beängstigend intensiv. Doch sonst suchten die "Ostertöne" Intensität in der Zurücknahme. Das seine stupende Virtuosität mit einer wachen Gelassenheit zelebrierende Quatuor Diotima aus Frankreich schlug am Abend des Karfreitags einen faszinierend beziehungsreichen Bogen von Alban Berg über Helmut Lachenmann, Mark Andre und Luigi Nono bis zu Arnold Schönberg. Verblüffend, wie logisch Lachenmanns erweiterte Instrumentenbehandlung im Quartett "Grido" aus Bergs zunehmend das Geräuschhafte erkundender "Lyrischen Suite" hervorzugehen schien. Barbara Hannigan trieb manchen Hörern mit ihrem kristallinen, laserfeinen Sopran beim Nono-Solostück "Djamila Boupacha" die Gänsehaut auf die Arme. Und im Zusammenklang mit den vier extravagant in roten Socken, roten Gürteln und DDR-Grenzer-farbenen Hemden und Hosen auftretenden Franzosen blühte bei Schönbergs "Quartett fis-Moll mit Sopran op. 10" eine delikate Fin-de-Siècle-Stimmung auf; angesichts des hörbar nahenden Abschieds von der Tonalität weit mehr getränkt von Wehmut als von umstürzlerischem Furor.

Wie klar voneinander geschieden die Publikumskreise sind, die das Konzertangebot des Festivals jeweils anzieht, war am Ostersonntag zu erleben, als Anja Harteros ihren Liederabend "Von ewiger Liebe" gab. Ihrer hinreißend konzentrierten, dabei vor Liebe zum Gesang und all den subtilen Schattierungen der Texte und der Musik überfließenden Soiree blieb Hamburgs kleine Neue-Musik-Fraktion, die am Quartett-Abend fast unter sich geblieben war, nahezu komplett fern. Aus prinzipiellen Erwägungen? Die Opernliebhaber genossen dafür Harteros' tief empfundene und technisch absolut souveräne Darbietung von Liedern zwischen Brahms und Alban Berg umso mehr. Manchmal wäre man gern im Besitz eines Zauberschraubenschlüssels, mit dessen Hilfe sich das Brett vorm Kopf ideologisch begrenzt aufgeschlossener Hörer lösen lässt. All diese Bretter aufeinander geschichtet ergäben bestimmt prima Brennmaterial für gleich mehrere Osterfeuer.

Die Liedernacht mit sechs Sängern des Internationalen Opernstudios am Ostersonntag zog deutlich mehr Menschen ins Brahmsfoyer, als dies die filmischen Porträts einiger Mitwirkender - etwa Mark Andre, Waltraud Meier, Anja Harteros - zu Kaffee und Kuchen an den Nachmittagen vermochten. Besonders eindrücklich präsentierte sich dabei die Sopranistin Katerina Tretyakova, die übers musikalisch schöne und sinnvolle Gestalten hinaus begriffen hat, dass das Singen vor allem mit Kommunikation zu tun hat - mit dem Hörer, mit dem Publikum.

Künstlerisch war diese fünfte Ausgabe die bislang stärkste der "Ostertöne". Doch der Zeitraum bleibt problematisch. An Ostern zieht es die Menschen zueinander, ins Familiäre, ins Häusliche und ins Freie - kaum in den Konzertsaal. Und wenn das Festival überregional wahrgenommen werden will, braucht es mehr Fluidum und ein attraktives Zentrum. Die diesmal als Motto herbeigefächelte "Luft von anderen Planeten", die so ein Kulturereignis unwiderstehlich macht, findet den Weg in die Laeiszhalle nun mal nicht. Das Haus birgt zwei herrliche Konzertsäle, aber weitere Besuchsgründe: keine. Oh Elbphilharmonie, werd endlich fertig!