Uwe Timm wurde in Hamburg geboren, trotzdem will der Autor hier nicht leben. Am Dienstag wird er 70 Jahre alt . Ein Porträt von Thomas Andre.

Er war nach Paraguay gefahren, und dort wartete er, dass sich seine Wünsche erfüllten. Uwe Timm hoffte seit seiner Kindheit auf diesen Augenblick, jetzt stand er den Indianern gegenüber, sie öffneten den Mund, und sie sprachen - Plattdeutsch. Die Sprache seiner norddeutschen Heimat.

Timm hatte sie gefunden, die Ureinwohner, die von den Nachfahren der einst aus Friesland eingewanderten Mennoniten das Plattdeutsche übernommen hatten, die Gestalten aus den Kolonialbüchern im Regal des Vaters. Die hatten schon die Fantasie des Knaben erregt, irgendwann suchte er sogar mit einem Freund an der Elbe die Quelle des Orinoko. Zwei Heranwachsende mit Fernweh. "Mein Freund Klaus wurde Leiter des Iberoamerikanischen Instituts in Hamburg, ich fuhr nach Paraguay, fand die plattdeutschen Wilden und heiratete außerdem eine Argentinierin", sagt Uwe Timm.

Im großen Arbeitszimmer des Schriftstellers in Berlin-Friedenau hängt ein Bild, darauf türmen sich die Wellen im Hamburger Hafen. Ein Geschenk des Sohnes. Ansonsten gibt es hier einen geräumigen Schreibtisch mit Laptop, einen Schrank und ein Regal mit Büchern. Die Märzsonne schickt ihre Strahlen in diese Werkstatt der Poesie, die aus nicht viel mehr besteht als diesem Tisch, der den Glanz von außen in eine matte Oberfläche verwandelt.

Er hat es schön hier, der Dichter Timm, der am Dienstag 70 Jahre alt wird. Die Timms haben die Wohnung im alten Westen Berlins vor 20 Jahren gekauft. Zwei Jahre haben sie hier am Stück gelebt, später ist das Domizil Studentenbude für die Kinder gewesen. Uwe Timm sagt: "Ich wollte weg aus Hamburg, der Stadt, in der ich geboren wurde." Und er ging weg, 1961. Erst nach Braunschweig, wo er das Abitur nachholte. Dann nach München, wo er seit mittlerweile 49 Jahren lebt. Das ist fast ein halbes Jahrhundert; aber seine Wurzeln kann man trotzdem nicht einfach umpflanzen. Timm, der erfolgreiche Autor von Büchern wie "Die Entdeckung der Currywurst", das in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, und "Rot", zog mal nach Paris um, mal nach Rom. Er ist immer noch Hamburger.

München kommt in seinen Romanen so gut wie nicht vor, dafür aber kehrt Timm als Erzähler immer wieder nach Hamburg zurück. Gleich in seinem ersten Roman von 1974, "Heißer Sommer". Kurz nur in "Kerbels Flucht" und "Kopfjäger", und dann aber richtig in seinem Currywurst-Buch, als er die erdachte Imbissbudenbetreiberin Lena Brücker am Großneumarkt eine kulinarische Pionierin werden ließ. Besonders in Norddeutschland ist "Die Entdeckung der Currywurst" Schullektüre. Er bekommt Post von Schülern, die Zahl der Einträge im Internet-Gästebuch des Verlags, in dem seine Taschenbuchausgaben erscheinen, ebbt nicht ab. Die jungen Leute wollen wissen, wie denn der Autor sein eigenes Werk interpretiert.

Aber Timm antwortet ihnen meistens nicht. Wie denn auch, es sind ja so viele Mails, und Timm, der Erzähler, spricht in seinem Werk. "Sobald ein Schriftsteller sein Werk veröffentlicht hat, ist seine Stimme nur noch eine unter vielen", sagt Timm. Vielleicht ist ihm das ganz recht so, dass man seine Geschichten in viele Richtungen deuten kann.

Nicht wenige Kritiker wünschen ihm den Georg-Büchner-Preis. Wartet er auf den? Nein, sagt Timm, der Repräsentant der sogenannten mittleren Generation, "ich habe keine schlaflosen Nächte deswegen". Viele andere haben diese wichtigste literarische Auszeichnung ja auch nie bekommen, Siegfried Lenz zum Beispiel, ein anderer großer Hamburger Autor. Die mittlere Generation: So werden die genannt, die auf die Flakhelfer-Generation folgten, auf die intellektuellen Schwergewichte Enzensberger, Walser, Grass. In deren Schatten haben Leute wie Uwe Timm immer irgendwie gestanden, aber sie hatten es nicht unbequem dort, wo sie die anderen beobachten konnten. Grass zum Beispiel, den ewigen, den klugen Nörgler. Der ist seiner Linie treu geblieben, das nötigt Timm Respekt ab.

"Ich bin der Beobachter aus der Distanz", sagt Timm. Der Tiefenschürfer, der aus der Erinnerung seine Erzählungen klaubt. Verlorene Kindheit, errungene Freiheit, so hat Timm selbst das Paradigma seines Lebens genannt. Er hat das Thema der Befreiung in vielen seiner Bücher variiert, die Befreiung aus der Umklammerung des Elternhauses. Der Vater wollte, dass der Sohn Kürschner wird. Und so wurde Timm Kürschner. Nach dem Tod des Vaters rettete der gerade einmal Volljährige das Familiengeschäft vor dem Konkurs.

Doch dann verlässt er Hamburg, die Herkunftswelt, die eine Welt des Zwangs ist. Er will lernen, lesen, schreiben. Weg von den Autoritäten, hin zu einem Glauben, dass man sich verändern kann. Die Studentenbewegung nimmt ihn auf, ohne dass er je diese kleine ironische Distanz aufgibt, die ihn nicht den Überblick verlieren lässt.

Timm horcht in sich hinein. Was er findet, ist die Lust am Überfluss der Möglichkeiten, die Lust am Selbstgenuss. Er beschreibt das sehr schön im Erinnerungsbuch "Der Freund und der Fremde", der Lebensbeschreibung zweier Lebenshungriger: Timms selbst und des später ermordeten Benno Ohnesorgs. "In jedem waltet eine Sehnsucht", sagt Timm. Eine Sehnsucht, die alt ist wie die Menschheit selbst. Die Archäologie der Wünsche.

Was im Anderswerden bleibt, ist die Vergangenheit. Sie schwingt nach. Bis heute ist Hamburg Sehnsuchtsort geblieben, und wenn Timm in seiner Berliner Wohnung das Reich der Erinnerung betritt, dann hört er die Stadt seiner Kindheit - das Schreien der Möwen, das Tuten der Schiffshörner. Er faltet die Hände und sagt: "Ich träume oft von Hamburg." Timm hat Jugenderinnerungen über sein Werk, seine Romane, Essays und Erzählungen, verstreut, wir erfahren von den Besuchen bei der Tante Grete im Gängeviertel, deren Berichte von Glück und Unglück der Menschen in der Nachbarschaft, zu der weitläufig auch der Hafen und St. Pauli gehörten, er gierig aufsog.

Wenn Timm heute beim Schreiben seine Sätze mitliest, dann tut er das mit einer gelassenen norddeutschen Aussprache. In München, sagt er, nimmt er auch nach einem halben Jahrhundert den Dialekt der Einheimischen als etwas Fremdes wahr. Das passt gut zu seinem literarischen Programm: Der Erzähler müsse, so brachte es Timm wissbegierigen Studenten in Poetik-Vorlesungen bei, das Alltägliche mit dem Blick des Fremden sehen. Und dann beschreiben, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Die Leser lieben ihn dafür, für seine zeitgeschichtlichen Zeugnisse. Sie kommen zu seinen Lesungen, weil er ihnen erzählt, wie es gewesen ist: im Nachkriegsdeutschland, 1968, in der Berliner Republik oder in Südamerika, wo manche seiner Geschichten spielen. Vielleicht ist Uwe Timm nicht in einer Stadt zu Hause ("die Sehnsucht nach Hamburg ist die nach den Kindheitserinnerungen, es ist nicht die des Zurückkommen-Müssens"), er ist es in einer Generation.

Die innere Ruhe des erfolgreichen Schriftstellers verlässt ihn, wenn er über die Verunglimpfung der 68er-Generation spricht. Sein Gesicht verzieht sich spöttisch. Früher, sagt Timm, "hätte Westerwelle nicht mit seinem Lebensgefährten über den roten Teppich in Bayreuth laufen können, er spricht aber in einem fort von den Sünden der 68er, ihrer angeblichen Zerstörung der althergebrachten Gesellschaft". Und das ärgert Timm, der nur noch ein solidarisches Band in der Gesellschaft erkennen kann: eine gerechte Umverteilung von oben nach unten. Wie kann man da von Steuersenkungen sprechen, fragt er sich, "ich zahle hohe Abgaben, aber ich zahle sie gerne. Schreiben Sie ruhig: ,Der Schriftsteller Uwe Timm ist erbost über die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich'" Das Weltbild eines 68ers, bereinigt von Lebenslügen.

Vor ein paar Wochen ist Timm mal wieder in Hamburg gewesen. Eine seiner Töchter und zwei Enkelkinder leben hier. Timm las im Philosophenturm der Universität aus seinem "68"-Roman "Heißer Sommer". Es wurde viel gelacht; der im Buch geschilderte Uni-Alltag ist einerseits weit weg von heutigen Zuständen, anderes ist von zeitloser Gültigkeit, und wenn heute Studenten Hörsäle besetzen, dann ist ein ehemaliger Studentenrevolutionär ein gern gesehener Gast.

Es gibt nichts Tolleres für einen Schriftsteller, als dass die Jungen einen Zugang zu seinem Werk haben. Wenn Leser nachwachsen. Dichter leben, wenn sie Glück haben, in ihrem Werk fort. Dass Timm jetzt 70 wird, ist kein Grund fürs große Bilanzziehen, das weitschweifende Zurückblicken. Das hat er in seinen autobiografischen Büchern getan, und deshalb ist er angenehm zurückhaltend. Aber es hat mal einer eine Biografie über ihn geschrieben, "lesen Sie die", sagt er. Obwohl er genau weiß, dass das Wichtigste doch in seinen Büchern steht.

Es ist Lena Brücker, die Currywurst-Entdeckerin, der der Erzähler im berühmten Roman sein Ohr schenkt. Sie strickt beim Reden: die alte Metapher vom Erzählen als Fädenspinnen. In dieser Hinsicht ist Timm immer konservativ geblieben. Kein Andocken an die modernen oder postmodernen Spielereien. "Erzählen und kein Ende" hieß eine seiner Vorlesungen. Erzählen, Beobachten, Erinnern. Keine großen Auftritte, nirgends. In Talkshows sucht man Timm vergebens. "Das ist nicht meine Welt, ich brauche diese Aufmerksamkeit nicht", erklärt er und geht auf den knarzenden Dielen ans Regal. Dort stehen die Übersetzungen seiner Bücher - ins Chinesische, Japanische, Englische, Russische, Hebräische. Es sind hübsche Stücke, Timm legt sie voller Stolz auf seinen Schreibtisch.

Er ist ein angenehmer Plauderer, aber das Schreiben mag er lieber als Interviews. Und so hat er gar nicht so viel von Hamburg erzählt, der Stadt, in die er nicht mehr oft reist. Auf dem Boden seines wirklich sehr ordentlichen Arbeitszimmers steht der Brockhaus, auf ihm liegt eine Zeitungsseite vom April vergangenen Jahres. Das große Foto zeigt jubelnde Fußballspieler, sie haben gerade den Hamburger SV aus dem Pokal geworfen. Mittendrin: Tim Wiese, der Torhüter. Ein tolles Bild, diese sich entladende Euphorie. Timm mag den Verein von Wiese, und er mag den Torwart, ausgerechnet, einen Zeitgenossen, der nicht unbedingt im Verdacht steht, gerne mal zu einem guten Buch zu greifen. Eine seltsame Verbindung, denkt man.

Und Hamburger sind doch eigentlich nicht Anhänger von Werder Bremen.