Luk Perceval findet in Maxim Gorkis Lustspiel von 1905 dekadente, moderne Bürger, die über Beziehungsprobleme reden.

Hamburg. Viel Gorki ist in Luk Percevals Inszenierung "Kinder der Sonne" nicht mehr. Jedenfalls was die Cholera und die Pogrome angeht, die in diesem 1905 geschriebenen Stück ausbrechen, oder die sozial-revolutionären Ideen aus der Zeit vor der russischen Revolution. Ganze Handlungsstränge hat der Regisseur gestrichen, es wird von Autos oder dem Radio gesprochen, und ein Maler findet etwas "schnurzpiepegal". Macht aber nichts. Wie oft haben wir uns schon über "Stückzertrümmerer" oder Regiewillkür gewundert. Diesmal verschafft der Regisseur Gorkis Drama über Mitglieder einer dekadenten Bürgerepoche neue Energien und macht es für uns, die wir heute nicht mehr ähnlich intensiv von besseren Zeiten träumen wie die Menschen damals, verständlich, nachvollziehbar, modern und unterhaltsam.

Perceval hat sein 13-köpfiges Ensemble zur Premiere am Thalia-Theater in eine Art Selbsthilfegruppe für Sinnsucher verlegt. Da treffen der naiv menschenfreundliche Wissenschaftler Pawel (Jens Harzer) und seine Frau Jelena (Oda Thormeyer) auf lauter Menschen, die von schönen Gedanken leben und sich an Worten berauschen. "Das Ziel unseres Lebens ist, dass die Menschheit sich entwickelt", verkündet Pawel. Sie sitzen auf einem Tapeziertisch (Bühne: Katrin Brack), hinter ihnen schimpft eine alte, ehemalige Hausangestellte (Marina Wandruszka) über die modernen Zeiten und malt kindliche Landschaften auf eine rotierende Leinwand. Russland ist nur noch eine Illustration.

Diese Leute - Egoisten, Zyniker, Gescheiterte - schütten ihre Sehnsüchte voreinander aus, legen ihre Defekte bloß. Meist dreht es sich um Beziehungsprobleme, Affären, die nicht klappen, unausgelebte Liebschaften, brutale Realitäten. So oder so ähnlich könnte sich das Ganze auch in einer bürgerlichen Hamburger Wohnküche abspielen.

Jelena glaubt, alle Gefühle in ihr seien abgestorben. Wagin (Hans Kremer), ein Maler, liebt sie, betet sie an und weiß nicht wohin mit seinen Händen. Doch meint er sie oder nur das Gefühl des Verliebtseins? Oda Thormeyers Spiel enthüllt hinter aller Heiterkeit Trauer und Einsamkeit. Sie träumt von der Kunst, die "das Leben edler machen soll", kann sich aber nicht entscheiden zwischen ihm und ihrem Mann Pawel. Der versinkt in seiner Arbeit wie in einem Schutzanzug, blinzelt wissend und macht sich interessant, indem er den Gutmenschen spielt. Jens Harzer sieht dabei zerstreut schrullig aus wie Peter Sellers als "Dr. Seltsam". Doch auch er wird noch von einer anderen geliebt, Melanija (Marina Galic) will Pawel von Jelena freikaufen: "Gib ihn mir." Doch Pawel nimmt's gelassen: "Lass uns lieber Freunde sein."

Ach, und erst die anderen Paare! Olga (Christina Geiße) kreischt wie ein wütendes Kind: "Alles geht schief." Ihr Mann Kirill (Tilo Werner) steigert sich in den Gesang von "Otschen Tschornaja" und reißt tanzend alle Kleider von sich. Als er wieder angezogen ist, führt ihn Olga ganz vorn an die Bühne und verlangt: "Du gehst hier nicht eher weg, bis du dich entschuldigt hast." Das macht er dann später, mit zusammengekniffenen Zähnen.

"Keiner liebt mich", jammert Josef Ostendorfs Jegor, der seine Frau Julija (Lisa Hagmeister) schlägt. Die wiederum langweilt sich und macht gezielt andere Männer an, steckt ihnen liegend ihre Schuhe in den Mund. Dann gibt es Pawels Schwester Lisa (Patrycia Ziolkowska), der der Arzt Boris (André Szymanski) seine Liebe erklärt und die erst zu spät merkt, dass sie ihn auch liebt. Und Fima (Nadja Schönfeldt), die Mischa (Sebastian Zimmler) ständig ihre Träume erzählt und auf seine Nachfrage stets antwortet, dass er darin nicht vorkomme. Ein insgesamt wunderbares Ensemble, ein gelungener Abend.