Innenansichten einer gepeinigten Seele: Nicht alles ist verständlich, aber am Ende entsteht ein betörender Theater-Abend mit wunderbaren Bildern.

Hamburg. Dieser Abend ist inhaltlich nicht immer verständlich, doch er überrascht mit wunderschön anzusehenden Bildern voller geheimer Ängste und Sehnsüchte. Genau mit dem also, was Andersens Märchen auch tun.

Traum- und albtraumartige Szenen erfindet Regisseur Stefan Pucher für seinen Abend "Andersen. Trip zwischen Welten", der am Wochenende am Thalia-Theater Premiere hatte. Er erzählt von der Seelenpein des viel schaffenden Künstlers, der sich im Leben nicht zurechtfand und deshalb in melancholische Märchenfantasien flüchtete.

Wenn steife Biedermeier-Menschen zu Sphärenklängen über die Bühne staksen und kraxeln, erinnern sie an den frühen Bob Wilson (Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Marysol del Castillo). Doch die Inszenierung, eine Collage mit Zitaten aus dem Leben und Werk von Hans Christian Andersen, der der meistgelesene Autor der Welt ist, überfordert wohl selbst Kenner von Andersens mehr als 150 Märchen und 50 Theaterstücke, Romane, Gedichte und Reiseliteratur umfassendem Werk.

Hans Christian Andersen war ein einsames Genie. Seine Familie war neurotisch vorbelastet, er war Hypochonder und litt ein Leben lang darunter, dass Edvard Collin, der Sohn seines Ziehvaters, ihm das "Du" verweigerte. All das spielt an diesem Abend eine Rolle wie einige seiner Märchen, die immer auch unterschwellig von Trieb- und Rätselhaftem, von Unkalkulierbarem erzählen.

Herausgekommen ist ein hochartifizielles, verschrobenes Bilder-Märchen, in dem Bruno Cathomas als einer von drei Andersen-Darstellern mal als selbstherrlicher Künstler herumstolziert, mal als hilfloser Außenseiter "Angst, Angst, Angst" schreit. In dem als zweite Andersen-Figur der wunderbare Mirco Kreibich mit großen Augen rührend und fragend ins Publikum schaut, bevor er sich mühevoll unter einem Tisch verknäuelt und "Ich bin krank. Ich halte die Einsamkeit nicht mehr aus" winselt. Den dritten Andersen spielt Daniel Lommatzsch. Er erzählt eindringlich vom armen Gelehrten im Süden, ironisiert dann das Spiel, das hauptsächlich Andersens Märchen "Der Schatten" nacherzählt. Es geht darin um einen Schatten, der sich selbstständig macht, um die Doppeldeutigkeit des Lebens und die Frage "Wer bin ich?".

Vielleicht sollte man das alles einfach nur auf sich wirken lassen - so wie das kommentierende Schlagzeug und rhythmisch betörende Keyboard von Carsten "Erobique" Meyer und Matthias Strzoda. Oder den Gesang einer Königstochter (Birte Schnöink), die aus einer Tür in der Wand tritt und "Geh fort, schau hinter die Türen der Welt" singt. Oder die Filmprojektionen, die von verlorenen Menschen erzählen.

Die Bühne - eine weiße, ledrige Reliefwand, mit eingemeißelten Möbeln, Klappen, die sich öffnen, und Tischen, die hervorragen - wirkt wie eine kalte, unüberwindbare Mauer. Mal öffnet sich ein Fenster in der Wand und dahinter sieht man einen Film, in dem Bruno Cathomas nackt durchs Thalia-Theater läuft, während er sich vorn auf der Bühne im Travestie-Kostüm als Superstar gebärdet. Erst spät schaut er zurück auf seinen Film, realisiert seine Nacktheit und geht stumm ab. "Ah, des Kaisers neue Kleider", denken wir - auch ein Andersen-Märchen.

Mal sehen wir, wie einer Frau (Cathérine Seifert) die Beine abgehackt werden, und erkennen darin das Andersen-Märchen von den roten Schuhen. Doch auf Monologe wie "Das Alleinsein ist lächerlich wie eine umgekippte Haushaltsdekoration, die über Nacht in einem Schaufenster zusammengebrochen ist" könnten wir wirklich gut verzichten. Und lesen dann hinterher im Programmheft, dass sie von Rolf Dieter Brinkmann stammen.

Unverzichtbar jedoch und aus dem insgesamt tollen Ensemble wieder einmal herausragend: Karin Neuhäuser. Diesmal spielt sie als Mann den schnoddrigen, realistischen Part des Schattenlosen. Seit Spielzeitbeginn ist Karin Neuhäuser im Ensemble. Jeder Figur gewinnt sie mit Blicken, Gesten, Haltungen einen aufregenden Menschen ab.

Am Ende gab's viel Jubel. Einige Zuschauer hatten allerdings - und das ist lange nicht mehr vorgekommen - vorzeitig die Vorstellung verlassen. Rätsel gibt es immer wieder. Aber kaum so schöne wie von Andersen.