Neue Studien belegen es: Besucher unter 60 Jahren bleiben klassischen Konzerten fern. Den Sälen der musikalischen Hochkultur droht Leere.

Hamburg. Ein Gespenst geht um im Konzertsaal, das Gespenst der Überalterung. Sorgenvoll schauen Orchestermusiker, Dirigenten, Solisten und Veranstalter Abend für Abend in den Saal. Ihre Blicke sagen: Wenn das so weitergeht, wird sich der Silbersee, der ihnen aus dem Parkett entgegenschimmert, über kurz oder lang in eine Art Loch Ness verwandeln, aus dem eines schrecklichen Abends das Ungeheuer der Leere aufsteigen wird. Keiner mehr da. Alle Restzuhörer ausgestorben. Und mit ihnen fährt die Klassik ab in die Gruft.

So etwa sieht das Menetekel aus, das vielen Beobachtern des klassischen Konzertwesens schon seit Jahren schlaflose Nächte bereitet. Nachwuchssorgen ist gar kein Ausdruck für das, was den Konzertbetrieb plagt. Existenzangst ist das richtige Wort. Die Vorstellung, man müsse die Hörer nur wieder von klein auf mit klassischer Musik beglücken - mehr musikalische Früherziehung, mehr Musikunterricht in den Schulen, jedem Kind ein Instrument usw. usf. -, galt bislang als Heilmittel gegen den Bedeutungsschwund der Klassik unter Erwachsenen. Ein anderes: Der Silbersee sei zwar unsexy, zeige aber doch, dass die Menschen mit fortschreitendem Alter auf den tugendhaften Pfad der Klassik einschwenken. Nach der Hölle von Rock 'n' Roll und dem Fegefeuer des heimischen TV-Geräts läutert sich der Mensch im Paradies Konzertsaal. Spät, aber immerhin. Also kein Grund zur Sorge.

Nein, ganz falsch!, ruft jetzt ein Professor aus Friedrichshafen am Bodensee. Es gibt kein Klassik-Gen, das sich wie ein Medikament mit Retard-Wirkung erst jenseits der 50 im menschlichen Organismus regt. Den ausbleibenden Konzertbesucher zwischen 15 und 59 Jahren holt nicht die Pädagogik zurück zu Bach, Beethoven, Schönberg und Schostakowitsch. Allein veränderte Konzertformen werden die Klassik retten, orakelt der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle (39). "Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form" lautet der Untertitel des von ihm herausgegebenen Buchs "Das Konzert" (Transcript Verlag), dessen Kernthesen den Liebhaber herkömmlichen Konzertwesens schmerzen werden wie ein Stachel im Fleisch. Andererseits könnten sie etwa in Hamburg all jenen Mut machen, die da fürchten, Europas Kulturbaustelle Nummer eins, die Elbphilharmonie, werde sich der Welt, so sie denn die Eröffnung erlebt, allenfalls noch als sündhaft teures Mausoleum einer überlebten Kunstform empfehlen und nicht mehr als lebendige, sinnstiftende Stätte musikalischer Selbsterfahrung.

Tröndle hat Gitarre und Laute studiert, schon deswegen ist er der Totengräberei der Klassik unverdächtig. Aber seine Erfahrungen als Musikreferent im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und als Kurator eines Festivals in Bern haben ihn empfindlich gemacht für das, was im Konzertbetrieb schiefläuft. In der von Marketing-Leuten und vielfach auch von den Medien heiß geliebten Event-Kultur, bei der das Musikalische zugunsten des Gesellschaftlichen vollends ins Hintertreffen gerät, sieht auch er keine Alternative. Nicht die Musik selbst, so Tröndles Credo, braucht derlei vermeintliches Viagra. Nur das Konzert muss vom weitgehend erstarrten Ritual, bei dem die Eingeweihten jeden, der vor Begeisterung zwischen den Sätzen einer Sinfonie Beifall klatscht, für einen Totalignoranten halten, wieder zum "ästhetisch-sozialen Ereignis" werden.

Tröndle und seine zahlreichen Mitautoren betrachten das Konzertwesen auch aus systemtheoretischer, soziologischer und architektonischer Perspektive. "Die Systemtheorie", schreibt Tröndle, "nimmt an, dass, wenn die Geschwindigkeit der Umweltveränderungen höher ist als die des Lernens und Anpassens von Systemen, dies unweigerlich zu deren Niedergang führt. Gleiches gilt für Kulturorganisationen in der Gesellschaft. Verlieren sie ihre Anschlussfähigkeit, werden sie über kurz oder lang verschwinden. Der Prozess wird zwar durch staatliche Zuwendungen verlangsamt, jedoch nicht aufgehoben. Kulturorganisationen, die also an der Rekonstruktion vergangener Bedingungen arbeiten, arbeiten an ihrem Untergang."

Die Umweltveränderungen gegenüber der herkömmlichen Darreichungsform klassischer Musik, die grosso modo auf dem Stand von vor 100 Jahren verharrt, sind allerdings schwindelerregend. Schallplatten. Popmusik. Fernsehen. Festivals. Computerspiele. Internet. Um nur ein paar der Bohlen zu nennen, aus denen der eigentlich längst fertig geschreinerte Sarg des Konzertwesens besteht. Höhere Mächte befehlen derzeit allerdings noch: Beatmungsgeräte für klassische Musik noch nicht abschalten! Und Tröndle rät: "Soll die Kunstmusik wieder Anschlussfähigkeit zu ihrer Umwelt gewinnen, muss sie ihrer eigenen Musealisierung entgegenwirken, neue Aufführungsformen entwickeln und ihre Rolle in der Gesellschaft zeitgemäß definieren."

So gesehen, befinden sich die Hamburger Anbieter klassischer Musik im Allgemeinen und insbesondere die staatlich oder vom Rundfunkgebührenzahler alimentierten Orchester in einem Wettlauf gegen die Zeit - und das nicht erst, seit Hamburg sich mit dem Ja zur Elbphilharmonie mal eben die Selbstneuerfindung als Freie und Musikstadt auf die Stadtfahne geschrieben hat. Sie begegnen der Herausforderung mit unterschiedlichen Konzepten und Ideen (siehe Kasten).

Ob sie die Theorie der "Kohortenbildung" unterlaufen oder widerlegen werden? Derzufolge nämlich bilden sich die kulturellen Vorlieben im Alter zwischen 14 und 25 Jahren aus und verändern sich bis ins Alter hinein nur noch unwesentlich. Deshalb besteigen ergraute Werber und Rechtsanwälte mit Ende 50 ihre Harley, deshalb traben Rentner ins Rolling-Stones-Konzert, deshalb sind die Zuschauer der Dritten Programme, die vor 30, 40 Jahren für junge Leute erdacht wurden, heute zwischen 50 und 60 Jahre - alt geworden mit ihrem Medium. Die jungen Zuschauer fehlen auch hier.

Die gegenwärtige Hochkonjunktur der bildenden Kunst führt Tröndle nicht nur darauf zurück, dass die Künstler ihre Arbeit und ihren Stellenwert innerhalb der Gesellschaft schon seit den Anfängen der Moderne immer wieder aufs Neue zum Thema machen. Für ihn ist sie auch ein Ergebnis der Architektur: Gelungene moderne Museumsbauten ziehen von allein ein jüngeres Publikum an. Eine zeitgemäß gebaute Haut für Kunst entspricht ihm derart, dass es sich dort auch auf Hervorbringungen früherer Jahrhunderte einlässt. Glaubt man Martin Tröndle, dann gilt dies auch für Spielstätten klassischer Musik: "Wenn die Berliner Philharmoniker im Kabelwerk Oberspree auftreten, ist es da nicht nur rappelvoll, die Zuhörer sind im Schnitt auch ungefähr 20 Jahre jünger."

Aus demselben Kalkül zieht es etwa das Sinfonieorchester des NDR seit dieser Saison wiederholt nach Kampnagel - mit jungen Solisten, jungen Dirigenten und ungewöhnlichen Programmen probieren die Symphoniker Jeans-Konzerte und lassen die Philharmoniker ab und an nach Konzertschluss einen DJ auflegen.

Vielleicht aber unterschätzt Tröndle jene Spezies des Musikkonsumenten, die der amerikanische Kultursoziologe Richard Peterson vor 20 Jahren entdeckt und freundlich Omnivoren getauft hat. Die fressen alles. Heute die Stones in der Arena, morgen das Ensemble Resonanz mit zeitgenössischer Musik und modern gespieltem Barock, danach noch in den Klub für ein bisschen Live-Jazz und hinterher tanzen, bis der Morgen graut. Wenn diesen Allesfressern die Zukunft gehört, dann wird die Elbphilharmonie ihr Mekka. Christoph Lieben-Seutter, als Generalintendant des Hauses bis auf Weiteres der musikalische König Ohneland der Stadt, arbeitet mit seiner heterogenen Programmplanung zwischen Star-Aufgebot, Nachwuchsreihen, Residenzen hochkarätiger Musiker und Nischenprogrammen wie dem Akkordeon-Festival daran, dass der Publikumsschwund mit dem Ungeheuer von Loch Ness auch in Zukunft dessen hervorstechendste Eigenschaft teilt: eine Schimäre zu sein.