Mit seinem neuen Bestseller-Roman “Der Koch“ beweist Martin Suter, dass er zu den populärsten deutschsprachigen Autoren zählt.

Hamburg. Eine Lesung von Martin Suter ist mehr als eine Lesung. Sie ist ein Familientreffen, bei dem sich tout Zürich blicken lässt. Frauen, die aussehen, als kämen sie geradewegs vom Friseur ihres Vertrauens. Männer in teuren Anzügen. Junge Paare, die sich im Foyer mit Prosecco zuprosten wie auf einer Boutiqueeröffnung. Mit der freien Hand umklammern sie ein Buch mit glänzend weißem Schutzumschlag und einem sinnlichen Frauengesicht auf dem Cover: "Der Koch" steht seit wenigen Tagen in den Regalen der Buchhandlungen, offiziell vorgestellt wird er an diesem kalten Februarabend. Es ist eine Art Tauffest für das Buch. Und eine Widersehensfeier für den Autor, nach einem Jahr einsamer Schreibtischarbeit.

Wenn Martin Suter auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses sitzt, vor ihm rund 800 Zuhörer in roten Plüschsesseln, dann ist da nicht viel außer ihm. Ein Lichtkegel umrahmt ihn und verleiht der Szenerie etwas Heiliges. Im Saal ist es still wie auf einem verlassenen Bahnsteig. Das einzige Geräusch, das zuverlässig erklingt, ist Gelächter. Ein "Genauso ist es"-Hihi und ein "Köstlich, der Mann"-Haha. Die Menschen erkennen sich in Suters Beobachtungen selbst. Er schreibt auf, was viele denken, aber so schön nicht formulieren können. Mit originellen Pointen zu jonglieren, krampfhaft um Wirkung bemüht, ist nicht seins; er benennt die Dinge ohne Schnörkel - und trifft mittenrein ins Leserherz.

Über drei Millionen Mal haben sich seine Bücher verkauft, sind in 25 Sprachen übersetzt, alle zwei Jahre legt der Schweizer Autor einen neuen Bestseller vor. "Der Koch" (Diogenes Verlag), sein siebter Roman, steht mittlerweile auf Platz eins der "Spiegel"-Bestsellerliste. Vor dem vom Feuilleton hochgeschriebenen Literatur-Wunderkind der Stunde, Helene Hegemann. Suter hat nicht nur Leser; er hat Fans, smalltalksichere Kenner seines Werks. "Der neue Suter" ist ein feststehender Begriff in Literatenkreisen. Die Gründe für die Beliebtheit des Autors sind so vielfältig wie die Themen, von denen er erzählt: Alzheimer, Kunstfälschung, Molekularküche. Dass er beliebt ist, lässt sich dagegen leicht feststellen: "Wir freuen uns, dass Martin Suter heute mit uns feiert", begrüßt die Moderatorin vom Schweizer Radio das Schauspielhaus-Publikum. Nicht liest - feiert. In den Zürcher Buchhandlungen hängt das Konterfei des Autors in Schaufenstergröße, "Der Koch" stapelt sich auf den Bestsellertischen. Patriotismus gibt es auf dem Buchmarkt genauso wie beim Fußball - und Martin Suter ist, direkt nach Sprüngli-Schokolade und Schwarzgeld-Zinsen, das wohl populärste Exportprodukt seiner Heimatstadt.

Wenige Stunden vor der Lesung kämpft der Bestsellerautor mit einer Erkältung. Seine Tochter hat ihn angesteckt; die Nase läuft, der Hals kratzt. Das homöopathische Mittel, das ihm die Apothekerin empfohlen hat, zeigt noch keine Wirkung. Aber deshalb die Lesung - und das Interview - absagen? Kommt nicht infrage. Suter ist nicht nur als Schriftsteller ein Unterhaltungskünstler, sondern auch als öffentliche Person. Im Einzelgespräch wie vor vollem Haus. Kein Wunder, dass seine Lesereise so gut wie ausverkauft ist. Auch in Hamburg, wo er am 9. März im Altonaer Theater seinen Roman vorstellt, sind die Karten längst vergriffen. Leser wollen wissen, wie jemand aussieht, der es bis in ihr Wohnzimmer geschafft hat.

Dass es im Leben sehr viel schlimmere Dinge gibt als eine Erkältung, weiß jeder. Suter hat es im vergangenen Jahr schmerzlich erfahren: Im August verschluckte sich sein dreijähriger Adoptivsohn Antonio an einem Stückchen Wurst. Er erstickte. Über Dinge wie diese kann man nicht reden wie über Literatur, Erfolg und Schreibgewohnheiten. Aber weil sie alles verändern, auch die Literatur, den Erfolg, die Schreibgewohnheiten, kann man nicht einfach schweigen. Erst recht nicht als jemand, der es gewohnt ist, Worte zu finden für das, was in der Welt passiert. "Ich stehe jeden Tag mit dem Gedanken an den Tod auf und gehe mit ihm zu Bett", sagt Suter. "Es heißt, das Leben geht weiter, aber das stimmt nicht. Man tut nur so, als ginge es weiter." Seine warmen braunen Augen liegen tief in den Höhlen, der Anzug sitzt tadellos an den schmalen Schultern, die Haare sind sorgfältig zurückgekämmt, das Gesicht wirkt wie geschrubbt. Wenn jemand innerlich zerbricht, sieht man ihm das von außen nicht unbedingt an. Viele Bücher zu verkaufen freue ihn natürlich weiterhin, sagt Suter, "aber es ist nicht mehr das Wichtigste". Er sagt das mit angenehm tiefer, fester Stimme. Gut möglich aber, dass hinter der Gefasstheit die Tränen warten. Als Antonio starb, war "Der Koch" bereits beendet; andernfalls wäre wohl nicht dasselbe Buch herausgekommen.

Das Buch erzählt die Geschichte von dem tamilischen Wunderkoch Maravan, der mit seinem Catering-Unternehmen "Love Food" die Lust seiner Kunden auf Sex steigert. Mit ausgeklügelter ayurvedischer Experimentalküche. Das perfekte Dinner for two also. In den Roman hinein spielen zudem die Weltwirtschaftkrise, der Kampf der Tamilen in Sri Lanka und Schweizer Waffengeschäfte. Große Dinge in leichte Form zu gießen ist Suters Spezialität. Daran hält er fest, seit er mit "Small World" über einen Alzheimerkranken einen Bestseller aus dem Stand landete. Zwölf Jahre ist das her, 49 Jahre alt war Suter damals und hatte bereits eine Karriere als Werbetexter für Emmentaler Käse und Swissair hinter sich, "Champagnertänzer-Jahre" nennt er diese Zeit. Zuvor schrieb er Drehbücher, Songtexte, Fernsehserien, "Geo"-Artikel. Schreiben war immer schon sein kreatives Instrument, Transportmittel für die Gedanken. Als Romanautor gelang ihm schließlich, was nur wenige schaffen: der Weg in den literarischen Massengeschmack.

Suter verwandelt Themen, die alle umtreiben, in Unterhaltung. In süffige, für jedermann verständliche Plots. Es erstaunt nicht, dass sich das Fernsehen auf seine Geschichten stürzt wie ein Rudel hungriger Wölfe auf den Fleischbrocken. Die Betrügerfarce "Lila, Lila" mit Daniel Brühl startete Ende 2009 in den Kinos. Das ZDF hat vor Kurzem die Dreharbeiten zu seinem im Künstlermilieu angesiedelten Roman "Der letzte Weynfeldt" beendet. Noch auf der Leinwand zu sehen ist "Giulias Verschwinden", keine Buchverfilmung, sondern eine Komödie nach einem Originaldrehbuch des Autors. Es war der erfolgreichste Schweizer Film im vergangenen Jahr. Sein Thema: das Älterwerden. Wieder so etwas, zu dem jeder einen Bezug hat, gleich welcher Generation er angehört.

"Giulias Verschwinden" handelt von schlaffer werdender Haut, wachsenden Bäuchen und abnehmender Kondition. Von Krankheiten und dem Alleinsein, kleinen Wehwehchen und großen Ängsten. "Unangenehm sind Leute, die sagen: 'Mir macht das Alter nichts aus. Ich spüre keinen Unterschied'", sagt Suter, den man aufgrund seiner Art sich zu bewegen, zu reden, locker zehn Jahre jünger als 62 schätzt. Wenn er lacht, hat er etwas Spitzbübisches, Jungenhaftes. Als die Moderatorin ihm nach der Lesung eine Frage stellt, die er wahrscheinlich schon Hunderte Male beantwortet hat, sagt er erst einmal gar nichts und dann, sehr freundlich: "Entschuldigung, aber ich suche nach einer Antwort, die anders klingt als das, was ich immer sage." Nie würde er unhöflich auf eine harmlose Äußerung reagieren. Nie aber auch irgendwelchen Unsinn daherplappern. Suter ist das Gegenteil eines Schwätzers. Wenn er spricht, sagt er auch etwas.

Er tut das auf gänzlich uneitle Art, mimt weder die sensible Künstlerseele noch das extravagante Genie. Man muss ihn nicht hofieren, nicht umsorgen. Schreibblockade? "Ein Schreiner kann sich auch keine Hobel-Blockade leisten", sagt er pragmatisch. Er ist keiner, der tagelang aus dem Fenster guckt und darauf wartet, von der Muse geküsst zu werden. Er setzt sich nach dem Frühstück hin und arbeitet. "Ich bin einer, der eine Idee hat, wenn er eine haben will", sagt er. "Schriftliche Selbstgespräche" führt er, so lange, bis sich irgendwann das einstellt, was Suter "ein Wohlgefühl" nennt: "Dann weiß ich: Hier bin ich richtig." Es klingt ganz einfach, und es ist ziemlich schwierig.

1991 zog Suter mit seiner Frau, einer ehemaligen Modedesignerin, nach Ibiza. Dorthin, wo man das laute Party-Ibiza nur erahnen kann: in das kleine Dorf Panajachel. Auf der Insel schreibt er für gewöhnlich nicht - Küchendienst, Olivenernte und Marktbesuch nehmen Kopf und Körper vollständig in Anspruch. Mit dem Kochen hält er es dann ähnlich wie mit dem Schreiben: Er mag einfache Gerichte mit nur zwei, drei Zutaten, Eintöpfe und Ragouts etwa, kein Chichi, nichts Abgehobenes. Die nötige Ruhe zum Arbeiten und die Distanz zu seinen Geschichten, die er fast immer in Zürich ansiedelt, findet Suter seit ein paar Jahren in Guatemala. Seine Philosophie: Immer weiter weggehen, um den Geschichten immer näher zu kommen. "Ich bilde mir ein, dass ich mich aus der Distanz besser auf das Wesentliche der Dinge beschränken kann", sagt er. Nur was wichtig ist, bleibt im Kopf und findet seinen Weg aufs Papier.

Er erzählt von Kontrollverlust, Identität und Schein. Suter sagt es einfacher: "Mich interessiert: Wer bin ich und wer könnte ich sein?" Eine Frage, die groß genug ist für immer neue Romane. Manche Schriftsteller arbeiten sich ab an den immer selben Geschichten, ihrem Lebensthema quasi. Suter dagegen überrascht bei der Wahl seiner Sujets stets aufs Neue. Er hat, so scheint es, ein unbegrenztes Spektrum an Plots, die zeitlos und gesellschaftlich aktuell sind. Stichwort: Wirtschaftskrise.

Kein Genre ist sicher: Detektiv- und Schauerromane hat er geschrieben; Krimis im klassischen Sinne eigentlich nie - trotzdem hat er zwei Krimipreise gewonnen; unzählige Kolumnen über Manager unter dem Titel "Business Class".

Dinge erfinden zu können - das ist für Suter das Schönste beim Schreiben. Anders als im Leben, das sich nicht erfinden lässt. Vielleicht auch ein Grund, weshalb er nicht aufgehört hat mit dem Schreiben nach dem Tod seines Sohnes: Weil in der Fiktion alles möglich ist. Weil die Arbeit erlaubt, der Realität zu entfliehen. "Ich habe mal gehört, dass der menschliche Körper nur einen Schmerz zur selben Zeit empfinden kann", sagt Suter. "Wenn man Bein und Arm gebrochen hat, dann tut einem nicht beides weh. Sondern erst das Bein, und wenn das Bein besser ist, dann erst der Arm. Der Mensch ist eben so gebaut, dass er nicht Platz hat für zwei solche Schmerze. In etwa so geht es mir, wenn ich schreibe. Dann konzentriere ich mich auf die Geschichte. Für diese Zeit ist der Gedanke an meinen Sohn weg."

Schreiben kann mehr sein, als Worte aufs Papier zu bringen. Manchmal auch Trost.