Geschichte und Geschichten, sanfter Spott über die Künstlerkolonie - so erzählt der Autor von seiner Heimat Worpswede und vom Teufelsmoor.

Hamburg. Moritz Rinke stammt aus Worpswede. In Hamburg, vielleicht überhaupt in Norddeutschland, muss man eigentlich niemandem erklären, wer, was oder wo Worpswede ist; wer hier "Worpswede" sagt, dem haut garantiert sofort einer "Künstlerkolonie!" entgegen. Und fertig.

Dabei lohnt er, der Blick hinter dieses Schlagwort. Künstlerkolonie. Was das tatsächlich bedeutet, was eben diese Künstlerkolonie in einem Moor bei Bremen ausmacht, das steckt schon im Begriff: Eingeborene, also traditionell mundfaule Bauern, treffen auf Kolonialherren, also Maler, Hanseaten und anderweitig Durchgeknallte, die den Ort aus diesem oder jenem Grund zur Inspiration oder Sommerfrische erwählt haben.

Moritz Rinke, einer der meistgespielten deutschen Dramatiker (mal abgesehen von den toten), der die Nibelungen neu gedichtet und denkwürdige, teils erfundene, mehrfach aber preisgekrönte Reportagen geschrieben hat, über die Berlinale, die Grüne Woche, Bayreuth und - besonders pointenreich und deshalb oft vom Autor vorgelesen - darüber, wie er selbst an den Nibelungen doktert und dabei von seiner Mutter angerufen wird, Moritz Rinke also hat sich der Geschichte und Geschichten seines Heimatdorfes angenommen. In einem Roman. Seinem ersten.

"Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" heißt Rinkes Debüt auf mehr als 490 Seiten. Und man muss sagen: Moritz Rinke, der bislang schon als Triple-Spezialist galt - für die Gegenwartsbühne, für die literarische Kurzstrecke und auf dem Fußballfeld als bester Stürmer der deutschen Literaten-Nationalmannschaft - der kann also auch Romane.

Man trifft darin auf dasselbe Staunen, mit dem der Autor auch in seinen journalistischen Texten durch die Welt geht. Paul Kück ist sein "Mann, der durch das Jahrhundert fiel", ein in Teilen auch autobiografischer Protagonist. Ein Exil-Worpsweder Mitte 30, Sohn einer Hippie-Mutter und eines Künstler-Vaters, Enkel des selbst ernannten "Rodin von Worpswede", der in seiner Berliner Galerie ausgerechnet einen blinden Maler ausstellt. Erfolglos, versteht sich. Seine "inneren Kühe" aber lassen auch ihn nicht los, innere Kühe nämlich, erklärt Paul seiner (bald abgängigen) Freundin, seien "Seelen, die niemals das Moor verlassen können". Weil das Moor sie zurückzieht, sie hält und tief einsinken lässt in ihre Vergangenheit.

Denn das Moor vergisst nicht, im Gegenteil: Es konserviert. Und wenn es ihm gefällt, dann spuckt es auch wieder aus. Und wo die meisten Familien - im übertragenen Sinne - eine Leiche im Keller haben, sind es bei den Kücks eben Moorleichen. Übertragene. Und tatsächliche.

Weil sein historisches Erbe, das großväterliche Anwesen, im Teufelsmoor zu versinken droht, reist Paul aus Berlin an, um es zu retten. Es wird zu einer Reise in die Vergangenheit. In die eigene, in der es jeden Tag Großmutters duftenden Butterkuchen im Garten gab, und in die der Künstlerkolonie, wo zu ihren großen Zeiten prominente Bildhauer und Maler wie Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler das Kaff an der Hamme bekannt und sich zu eigen machten. Das gefährdete Haus, in dem Paul einst in einem Schrank geboren wurde, und die Statuen des Großvaters im Garten werden zur Metapher für sein eigenes Leben. Noch hält provisorisch, was schon bald zwangsläufig auseinanderbrechen wird.

Das illustre Personal wird von Rinke mit dem ihm eigenen sanften Spott und einem unnachahmlichen Gespür für den Irrwitz der Worpsweder Alltäglichkeiten vorgeführt: Da ist Pauls Oma, die hingebungsvoll Rainer Maria Rilkes angeblichen Kochtopf wienert, da ist Pauls Verwandter mit dem eigenwilligen Namen Nullkück, dessen Herkunft logistische Ungereimtheiten aufweist. Da sind Rudi Dutschkes Schuhe und ein "befreiter Beckenboden", da stehen ungerührt und bronzeglänzend Heinz Rühmann, Willy Brandt, Ringo Starr und eine seltsam schöne Marie im Garten, die vielleicht die Gestapo geholt hat, vielleicht aber auch das Moor. Da ist der ominöse Ohlrogge, der nur im Regen in den Dorfpuff geht, nie ohne Luftpumpe und Fencheltee, und da ist - alles andere als ungerührt - natürlich Pauls Mutter, die sich von ihrem Selbstfindungstrip auf Lanzarote immer wieder telefonisch zuschaltet. Absurde Mutter-Sohn-Telefonate, das hat er schon in der erwähnten Nibelungen-Geschichte bewiesen, kann Moritz Rinke ganz besonders gut.

Es ist aber nicht nur sein lakonischer Witz, der den Roman so lesenswert macht, es ist die bestechende Verschränkung von Dichtung und Wahrheit und die gelungene Gradwanderung der Tragikomödie. Denn Rinke erzählt auch von moralischen Abgründen, grandios gescheiterten Lebensentwürfen, von Eitelkeiten und Künstler-Neid, Vergänglichkeit und Verkommenheit. "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" ist die Geschichte von einer in so mancher Hinsicht tief gesunkenen Familie, eine Geschichte aus und von der Künstlerkolonie Worpswede in den sumpfigen Wiesen des norddeutschen Flachlands.

Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Kiepenheuer & Witsch, 496 S., 19,95 Euro. Am 10. März liest Rinke in der Buchhandlung Cohen & Dobernigg.