Der Buchautor und Journalist schaute Politikern, Künstlern und dem Volk aufs Maul - und tranchiert die Wirklichkeit mit dem Florett.

Berlin. Irgendwas ist ja immer, morgens in Deutschland. Dem Helmut Dietl, dem wird der Tag komplett versaut, wenn die Bleistifte auf seinem Drehbuchautor-Schreibtisch zu lang sind, die muss er mit einer ganz bestimmten Schere stutzen, sonst kommt nichts, und es kommt auch nichts, wenn der Tee nicht genau da steht, wo er hingehört wie das Amen in die Kirche, und wenn er seine Mohnsemmel nicht hat. Ex-Bahnchef Heinz Dürr blättert im Frühflieger fremde Thomas-Bernhard-Bücher durch, sobald deren Besitzer mal kurz wegdösen. Und Roland Koch ist selbst beim Kartoffelpufferbraten vor Wählern kein Thema, das mehr hergibt als: Roland Koch beim Kartoffelpufferbraten.

Was macht Benjamin von Stuckrad-Barre, der ab hier der Lesbarkeit wegen BvSB heißt, aus solchen Momenten? Mal kleine, mal große Texte, oft großartige. Unaufdringlich, genau beobachtend. Und hin und wieder, so viel Spaß muss schon noch sein dürfen, auch treffsicher gemein. "Mein größtes Problem und meine größte Stärke: Ich langweile mich so schnell." Man kann, so unter Kollegen, schon mal neidisch werden auf die Chancen, die er bekommt, und wie subtil er sie inzwischen nutzt. Wie er sich dabei nicht zu wichtig nimmt.

"Ich bin ganz schlecht als Auftragskiller", bis nächsten Sonnabend 200 Zeilen über "Was macht eigentlich Roman Herzog?" aus dem Stand, "das ist unmachbar für mich".

Aber wer jetzt noch erwartet, dass BvSB in seinem neuen Buch - polierte Remakes von Reportagen, Porträts, Prominenten- und Alltagsbesichtigungen unter anderem für die "Welt" und das Musikmagazin "Rolling Stone" - unentwegt wie wild auf die Sahne haut, hat Pech. Die brachial geschwungene Keule des früheren Pop-Literaten, der dafür viel Medienprügel einstecken musste, ist wegen Ermüdungsbruch in Frühpension; das Florett, gut geschliffen zum Tranchieren eingesetzt, macht viel mehr Spaß. Wenn in "Auch Deutsche unter den Opfern" über Roger Cicero zu lesen ist, sein Swing klinge so, als wisse er immer, wo sein Impfpass ist, dann sitzt das und langt auch.

Früher hatte BvSB den Drang, wie ein aufgeklapptes Messer durchs Rampenlicht zu rennen und wild auf alles einzustechen, bis der Erste von vielen lachte. Ende der 90er begann diese Zeit, in der er knallhart durchzog, großkalibrig, oft großkotzig.

Heute, mit 35, etliche Umzüge, Jobwechsel und dramatische Zusammenbrüche später, flaniert er lieber durch das politische und das restliche Berlin, denkt und schreibt sich so seinen Teil über das, was passiert, wenn Inszenierung auf Alltag trifft und man merkt, Gott ja, die Merkel kann ja auch mal nicht wissen, worüber sie noch sinnvoll reden kann. Dann sitzt man eben mit der Kanzlerin im Zug und schlägt mit Gerede über Thüringer Würste die Zeit tot, bis die Kanzlerin wegen irgendwelcher Regierungspflichten von ihrem sonderbaren Gegenüber erlöst wird und wieder ordentlich Kanzlerin sein darf. "Die Und-sonst-so-Fragen sind meist die ergiebigsten", meint BvSB, während bei einem seiner Meinung nach mittelschlechten Italiener die Gemüsesuppe kalt zu werden droht.

"Mich mit irgendeinem 35 Jahre alten Schauspieler oder Autor hinzusetzen, finde ich vollkommen uninteressant", meint der 35 Jahre alte Autor und Ex-Selbstdarsteller, "ich kann mir die Probleme in etwa vorstellen, finde die auch unterschiedlich nett. Aber es ist eigentlich sinnlos, sich zu treffen. Das alles kann ich auch an mir selbst sehen."

Dann doch lieber, viel, viel lieber, die lässigen Senioren, sehen, wie man werden möchte. "Meine ganz große Liebe sind die alten Männer - das ist das, was mich am meisten bewegt." Kempowski war so einer, Lindenberg ist so einer, hin und wieder Begegnungen mit Enzensberger, das hält neugierig und entspannt das eigene Ego. "Die sind so komplett im Bonusbereich. Die Luft aus der Gegenwart rauslassen, das gelingt solchen Leuten." Und dann erst die Art der Spleens - 50 Jahre an den eigenen Tics gearbeitet, da wird's dann geil, freut sich BvBS. Die Betriebstemperatur ist erreicht, ab jetzt wird eher geplaudert und nicht nur gefragt.

Irgendwann in der Mitte des Hauptgangs landen wir dann doch noch beim Kulturjournalisten-Dessert des Monats, bei Helene Hegemann, bei der Jungautorin, die sich Textpassagen ausgeliehen hat und verpetzt wurde. Wann, bitte, soll jemand denn altklug sein, wenn nicht mit 17? Aus seinem Münchner Feuilleton-Hochsitz bei der "Süddeutschen" hat Thomas Steinfeld deswegen gerade "den Klopper von der Erfahrungsarmut" gebracht. Da wird BvSB anders, und er kommt tatsächlich in die Nähe einer Wallung. "Mich interessiert das Buch nicht so, aber ich kann's aufschlagen und finde einen Satz, der raucht. Den wird Steinfeld in seinem ganzen Leben nicht hinkriegen."

Doch ansonsten spricht BvSB überlegt und vor allem zielgenau, hat nicht nur gedruckt den leicht anmelancholisierten Tonfall von jemandem, der sich nur noch aufregen will, weil ihm danach ist, nicht wenn andere das von ihm erwarten. "Ich kann inzwischen auf ein Werk verweisen, es steht nicht mehr zur Debatte, was ich bin. Oder ob ich bin." Die beiden Brüder des Pastorensohns, die haben ordentliche Berufe, Arzt und Pastor, Playmobil-Berufe nennt BvSB sie. Da weiß man, was man hat, was man anzieht, was das so ist, was man zu tun hat bis zum Wochenende.

Der Platz zwischen den Stühlen, da ist er jetzt er, da will er sein, da ist BvSBs Freiraum zum Nachdenken und Beschreiben. "Der Blick auf die sich präsentierende Gesellschaft ist spannend und erhellend. Interessant wird's doch da, wo's nicht hinhaut. Der Gegenwart Herr zu werden ist mir ein Anliegen." Noch Journalist, schon Autor oder womöglich schon Publizist? Publizist sei man erst mit einem Buch bei einem kleinen Bonner Verlag, das "Erinnerungen" heißt. Autor also.

Über das neue Buch, den Grund des Treffens, haben wir in den zwei Stunden bis zum letzten Zug nach Hamburg kaum gesprochen, das war eh nur der Anlass. Fürs BvSB-Sammelalbum der Fans kommt, aufgepasst, genau jetzt die Passage zum Abheften.

Auch die Gegend, in der BvSB in Berlin-Mitte wohnt, passt ins Bild dieses Gesellschafts-Besichtigers. Ganz in der Nähe war sein Schreibknast mit Helmut Dietl. Anderthalb Jahre, bis Ende 2007, haben sie am Drehbuch für "Berlin Mitte" gefeilt. Werktags von 10 bis 14 und von 16 bis 18.45 Uhr, dann war Freigang. "Man muss ineinander verliebt sein, wenn man so was macht." Dietl, den hat er schon als Kind verehrt, konnte ganze Passagen aus "Kir Royal" auswendig, ohne zu kapieren, wo da der raffinierte Witz war. Über den Film darf er aber eigentlich noch nichts sagen.

Ab Mai wird vielleicht gedreht.

Da hinten, da wird's richtig teuer, das ist nicht so seins, zeigt BvSB noch bei seiner Abschiedszigarette, und da, in der anderen Richtung, da ist es ihm "zu bionadig". Er wohnt dazwischen. Wir sind bis zum Ende beim "Sie" geblieben. Kollegiales Rankumpeln wäre bei einem wie ihm zu einfach; er mag mittendrin und nicht dabei.

Benjamin von Stuckrad-Barre, geboren 1975 in Bremen, arbeitet seit 1993 als freier Autor, u. a. für den "Rolling Stone", für Harald Schmidt und für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". 1999 erster Roman: "Soloalbum". Weitere Bücher, Radio- und TV-Sendungen. Seit 2007 schreibt er ein Drehbuch mit Helmut Dietl. Stuckrad-Barre lebt derzeit in Berlin.