TV-Unterhaltung in Krisenzeiten ist so abwechslungsreich wie Kantinenessen. Die Zuschauer aber könnten das ändern.

Für professionelle Fernsehkritiker und Insider des TV-Geschäfts war es dann angeblich doch keine große Überraschung, als Charlotte Roche nach nur fünf Gastspielen vom Talkshow-Dino "III nach Neun" absprang. "Wir haben nun festgestellt, dass es unterschiedliche Auffassungen über die Sendung gibt und in einer solchen Situation ist es am besten, sich neu zu orientieren", lautete die elegante Begründung des Radio-Bremen-Programmchefs Dirk Hansen für das jähe Ende eines schiefgegangenen Experiments.

In Wahrheit hatte sich der - eigentlich traditionell respektlose - ARD-Winzling durch die zahlreichen Meckerbriefe der Zuschauer entmutigen lassen, der angestaubten Quasselrunde ein wenig mehr Esprit einzuhauchen und damit neue, jüngere Zuschauer anzulocken. "Wenn heute Gesichter für eine Unterhaltungssendung, für ein TV-Movie und erst recht für Serien gecastet werden, müssen sie eine sichere Bank sein.

Daher haben Sender klare und für Produzenten oft unumgängliche Personalvorstellungen", sagt der Berliner TV-Unternehmer Ulrich Meyer, dessen META-Productions für Sat.1 ("Akte 2010") sowie die ARD ("Escher - der MDR-Ratgeber") schon seit vielen Jahren zwei erfolgreiche Infotainment-Formate produziert. Der Erfolg hinge jedoch immer stärker von der persönlichen Bereitschaft der Macher ab, sich den veränderten Marktgegebenheiten anzupassen und der Forderung der Auftraggeber nach möglichst absoluter (Quoten-)Sicherheit unterzuordnen.

Als Talkerin bei "III nach Neun" aber war Charlotte Roche alles andere als eine sichere Bank. Denn das zweifellos begabte mediale Multitalent kam neben dem alerten und sanften Giovanni di Lorenzo zu schrill, zu piepsig und zu mädchenhaft rüber. Eine, die weder angepasst noch stromlinienförmig moderiert; eine die darüber hinaus auch noch einen megaerfolgreichen Igitt-Roman ("Feuchtgebiete") geschrieben hat, polarisiert eben.

Auch wenn es sich die um den Verfall der TV-Kultur stets besorgten Kritiker wünschen - "Wer sich heute darüber beschwert, dass es immer weniger Menschen im Fernsehen gibt, die polarisieren, muss sich fragen: Will ich solche Menschen auf Dauer um mich haben?", kontert SAT.1-Veteran Meyer. Die moderne Fernsehunterhaltung scheint sich daher immer stärker am Wahlkampfslogan der CDU unter Adenauer aus dem Jahre 1957 zu orientieren: "Keine Experimente!"

Kampf um ein Gewohnheitstier

"Wenn wir mit einer neuen Idee zu einem Sender gehen, fragen die Redakteure oft als Erstes: Ist denn dieses Format schon mal irgendwo gelaufen?", wundert sich auch Klaus-Jürgen Deuser, das Gesicht der Comedyshow "NightWash" und daneben Geschäftsführer der "Brainpool Live-Entertainment GmbH", einer Tochterfirma des erfolgreichen Kölner TV-Produzenten, der sich seit 1994 auf Comedy- und Light-Entertainment-Formate spezialisiert hat ("TV-Total", "Ladykracher", "Stromberg"). Diese Frage impliziere, so Deuser, dass die Verantwortlichen eigentlich schon etwas Neues möchten, sich dann aber doch weder trauen noch sich selbst vertrauen würden. "Der Mut zu einem großen Wurf weicht inzwischen häufig der Angst um den Jobverlust. Manche Redakteure haben regelrecht Schiss vor einem Flop!"

Während die öffentlich-rechtlichen Sender die Produzenten in der Regel dennoch "erst einmal das neue Format machen lassen" erlebt der Comedy-Guru gerade bei den Privaten zunehmend die Situation, dass die Arbeitsplatzsicherung zum wesentlichen Bestandteil von Formatentwicklungen geworden ist: "Bei den Privaten wird von vorne herein viel mehr hineingequatscht. Im Laufe der Entwicklung nimmt dann diese inhaltliche Einflussnahme so lange zu, bis die neue Idee verwässert ist und wieder möglichst Bewährtes ausgestrahlt wird." In seinem Blog beschrieb Deuser kürzlich das Phänomen der "immer gleichen, langweiligen Gesichter" im Fernsehen und stellte seiner Community die Frage, die mittlerweile viele Zuschauer bewegt: "Warum habe ich das Gefühl, Fernsehen ist bei Weitem nicht mehr so mutig wie noch vor zehn oder 15 Jahren?"

Sparen ist Programm

Kein Wunder. Die einstige Goldgräberbranche ist bloß noch eine Tellerwäscherindustrie. Es scheint, als könnten Kreativität plus Opferbereitschaft den oktroyierten Sparzwang der Sender nicht mehr kompensieren: Die Privaten leiden extrem unter einem kontinuierlich schrumpfenden Werbemarkt und müssen dann auch noch dabei zusehen, wie der Bruttowerbeumsatz im Internet im Jahr 2009 auf 1,6 Milliarden Euro gesteigert wurde, was einem Plus von 9,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Und manche Global Player wie Nike wollen zukünftig ganz auf die klassischen TV-Spots verzichten und konzentrieren sich lieber voll auf das Social-Marketing im Netz.

Schrumpfende Werbeeinahmen tun aber auch den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern inzwischen weh: Denn die Fernsehgebühren sprudeln längst nicht mehr so kräftig wie noch vor wenigen Jahren. Etwa neun Prozent der potenziellen Zuschauer - zumeist Hartz-IV-Kunden, Tendenz steigend - sind zurzeit von den Gebühren befreit; rund zweieinhalb Prozent der deutschen Haushalte gucken, wenn überhaupt, schwarz, wobei die Dunkelziffer noch höher liegen dürfte.

Hinzu kommt: In keinem anderen europäischen Land gibt es so viele Free-TV-Sender - etwa 100 - die sich ein kostenintensives 24-Stunden-Vollprogramm leisten. Viele von ihnen haben sich deshalb zu Sendergruppen zusammengetan. Der Vorteil: Formate, Moderatoren und prominente Studiogäste können beinahe hemmungslos im Rotationsverfahren untereinander ausgetauscht werden. Mehrfach verwertbare Interviews mit Stars und Sternchen - ein Termin, zehn bis 20 verschiedene abgefragte Themen - senken ebenfalls die Produktionskosten. So was nennt sich Synergieeffekt. Der Nachteil: Wie viele Nina Hagens, Mario Barths, Eltons, Schönebergers oder Cindys von Marzahn & Co. wollen Zuschauer täglich vertragen?

Die Masse entscheidet

Die einst verpönte Wiederholung ist heute logischer und ökonomischer Bestandteil des Programms, das sorgfältig auf das Gewohnheitstier Zuschauer zugeschnitten ist. Der verbringt zurzeit durchschnittlich vier Stunden pro Tag vor der Glotze und wechselt dabei etwa alle 13 Minuten mit der Fernbedienung den Kanal. Dieses "ganz normale Sehverhalten" wird von Fachleuten wie etwa bei der Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg (GfK) in minutengenauen Quotenverläufen ausgewertet und als Feedback an die Sender und die Werbeindustrie zurückgegeben. Letztlich entscheidet also immer der Geschmack der Masse über Erfolg und Nichterfolg eines Formats. Und keine Sendeanstalt kann derzeit Interesse daran haben, Neuankömmlinge zu verschrecken.

Häufig sind die Quoten der Mini-Sender zwar ziemlich gering. Aber gemeinsam mit dem Internet klauen sie den Größeren und Großen inzwischen doch eine Menge Zuschauer aus der sogenannten "werberelevanten Zielgruppe" der 14- bis 49-Jährigen. "Vielleicht haben wir ja auch mit unserer deutschen Gründlichkeit die propagierte Vielfalt etwas übertrieben", sagt Alexander Elbertzhagen, Geschäftsführer der Kölner Pool-Position Management GmbH, die von Hugo-Egon Balder über Thomas Herrmanns, Michelle Hunziker, Sandra Maischberger, Barbara Schöneberger bis hin zu Sonja Zietlow mehr als 50 der populärsten deutschen TV-Gesichter vertritt. Elbertzhagen glaubt inzwischen sogar, dass es angesichts der dramatisch rückläufigen Werbeeinnahmen derzeit zu viele Sender gibt. Immerhin: "Der Vorrat an brauchbaren Wiederholungen ist sehr groß. Er wird voraussichtlich noch etwa ein Jahr reichen", schätzt der Manager. "Andererseits ist der Pool an Talenten - aber auch an bewährten Fernsehgesichtern - nicht so groß, dass er für alle Programme ausreicht."

Erfolg ohne Veränderung

Grundsätzlich gilt: Ein Fernsehformat ist erst dann wirklich erfolgreich, wenn es möglichst lange praktisch unverändert ausgestrahlt werden kann, bis es irgendwann wirklich nicht mehr geht. "Käme ich als Produzent heute mit der 'Wetten, dass ...'-Idee um die Ecke, würde dieses Format wahrscheinlich nicht einmal die erste Entscheidungsrunde überstehen", vermutet Ulrich Meyer. "Was aber lange im Fernsehen läuft, das wird eben gern um jeden Preis gehalten. Also werden wir Thomas Gottschalk bestimmt so lange zu sehen bekommen, bis er eines Tages selber nicht mehr will. Und selbst dann wird ihn das ZDF sicherlich beknien, irgendwie weiterzumachen. Wenn nötig, zeigt man ihn dann eben nur noch im Close-up, damit man seinen Rollator nicht sieht."

Sparen ist erste Senderpflicht, doch die Finanzausstattung von TV-Produktionen kommt da immer weniger mit. Die Gewinnmarge der Produzenten wird knapper. Und so ist es mittlerweile eine wirtschaftliche Notwendigkeit, keinerlei Risiko einzugehen und auf Bewährtes zu setzen. Vor allem auf die bekannten und beliebten Gesichter.

Selbst das zuverlässigste ProSieben-Unterhaltungsfundament Stefan Raab musste kämpfen, bis seine "Schlag den Raab"-Show vom Haussender eine Chance und die notwendigen Produktionsmittel erhielt. Welch ein Glück: Denn dass ein deutsches Unterhaltungsformat bisher schon in 14 Länder verkauft werden konnte, hat Seltenheitswert. Fernsehinnovationen hierzulande stammen nämlich zumeist aus England, den Niederlanden und natürlich den USA.

Ständige Präsenz fordert natürlich auch ihre Opfer. Universal einsetzbare Quotenkönige wie Jörg Pilawa etwa kokettieren schon mal öffentlich mit Symptomen des gefürchteten Burn-out-Syndroms. So will der 45jährige vor seinem angekündigten Wechsel von der ARD zum ZDF erst einmal ein Jahr lang mit der Familie wieder Kraft tanken - auf seiner eigenen Insel in Kanada. Oder Barbara Schöneberger, die mit einer beinahe schon inflationären Kamerapräsenz zur beliebtesten deutschen TV-Unterhaltungsfrau wurde: "Diesen Eindruck konnte man tatsächlich gewinnen", gibt ihr Manager Alexander Elbertzhagen zu, "jedenfalls bis vor zwei Jahren. Inzwischen aber lehnen wir etwa 80 Prozent aller Anfragen konsequent ab."

Wer zu viel zappt, hat selber Schuld

"Modernes Fernsehen funktioniert wie eine Kantine, in der ein ordentliches Jägerschnitzel serviert wird und keinesfalls wie ein exotisches Drei-Sterne-Restaurant", beschreibt Ulrich Meyer den Status quo der wichtigsten Freizeitbeschäftigung der Deutschen. Die Geschmacksrichtungen des Schnitzels unterschieden sich schließlich nur minimal. Dementsprechend variantenarm wirkten daher auch erfolgreiche TV-Formate nebeneinander. "Doch findet es aus den bekannten finanziellen Gründen kein Sender mehr anstößig, das funktionierende Format eines Mitbewerbers in leichter Abwandlung zu übernehmen. Womit wir wieder beim Jägerschnitzel wären", sagt Meyer, "wobei das eine mit mehr Pilzen serviert wird, das andere dafür mit einem Petersiliensträußchen. Aber es ist und bleibt eben immer bloß Jägerschnitzel."

Dabei gibt es das gute Fernsehen längst. Das TV, das sogar die strengen Kritiker mögen, die mit dem Mainstream nur wenig anfangen können und wollen. Die Zuschauer müssen das gute Fernsehen nur suchen. Sie müssen es finden. Und dann sollten sie unbedingt einmal ihren Drang zum Zappen überdenken.

Nur wer weiß, was läuft, kann auch einschalten, was ihm gefällt - und muss nicht immer dieselben Gesichter ertragen. Der erste Schritt für den zukünftigen mündigen Zuschauer besteht daher im Erwerb einer möglichst informativen Fernsehzeitschrift.

Auf diese Weise kann man einen Fernsehabend - zweiter Schritt - zu einem regelrechten Event gestalten; womöglich sogar mit Freunden, Bekannten oder Nachbarn. Es ist psychologisch bewiesen, dass Menschen in einer Gruppe für gewöhnlich konzentrierter fernsehen, schon alleine um die anderen nicht zu stören.

Dritter Schritt: Die Zuschauer sollten den Mut aufbringen, neue deutsche Produktionen einzuschalten, anstatt ständig US-Serien in sich einzusaugen. Das neue TV-Gefühl sollte lauten: Tausche eine Folge "Kriminaldauerdienst" gegen eine Staffel "Navy CSI". Denn gerade die deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler sind ein Pfund, mit dem es sich auch international hervorragend wuchern lässt.

Mündige Zuschauer vermeiden - viertens - nach Möglichkeit Wiederholungssendungen. Und dem Umstand, dass anspruchsvolles Fernsehen häufig leider nur auf sehr späten Sendeplätzen zu genießen ist, begegnet man am besten mit der Investition in ein leistungsfähiges Aufnahmegerät. Aber die vielleicht wichtigste Waffe im Bemühen um bewussteres Fernsehen ist der möglichst sparsame Einsatz der Fernbedienung. Die ungeheure Programmvielfalt stellt den Zuschauern häufig eine Falle. Sie leben ständig im Argwohn, sie könnten eine bessere Sendung verpassen. Deshalb zappen sie - und werden beim Konsumieren von Häppchen meistens noch unzufriedener.

Wer sich daher an komplexe Krimis, authentische Reportagen, ungewöhnliche Erzählweisen oder sogar ausländische Kultursendungen mit deutschen Untertiteln heranwagt, sollte vor allem versuchen durchzuhalten. Auch wenn das gewählte Programm plötzlich viel interessanter scheint.